75 Jahre Grundgesetz: Drei “vergessene” Artikel
Deutschland feiert sein Grundgesetz. Durchaus zu Recht. Doch dabei werden drei wichtige Artikel gern “vergessen” – sie passen wohl nicht in die Zeit?
Mir geht es um das Staatsziel Europa, das Friedensgebot – und um den Artikel, der nach der Wiedervereinigung eine neue, gesamtdeutsche Verfassung ermöglicht hätte. Hier die zugehörigen Texte.
Präambel
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Wann wurde das Friedensgebot zum letzten Mal erwähnt – und was tut die Bundesregierung, um es umzusetzen?
Art 23
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.
Europa ist ein Staatsziel, immerhin. Doch was tut die Bundesregierung, um die föderativen Grundsätze voranzubringen? Und welche Rolle spielt das Prinzip der Subsidiarität eigentlich noch – außer in Wahl- und Sonntagsreden?
Art 146
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Nach der Wiedervereinigung hätte dieser Artikel die Chance gegeben, eine neue, gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Doch das ist nicht geschehen – heute ist diese historischee Gelegenheit nicht nur vergessen, sie wird sogar verdrängt!
P.S. Von der neuerdings gern zitierten “Staatsräson” steht übrigens nichts im Grundgesetz!
Thomas Damrau
24. Mai 2024 @ 14:26
@Herrmann Hirn
Man muss das Grundgesetz nicht „abschaffen“, aber der Beitritt der DDR wäre eine Gelegenheit gewesen
— die im GG verewigte Unterstellung zu hinterfragen, das Volk sei potentiell gefährlich und müsse daher durch eine „repräsentative Demokratie“ vor sich selbst geschützt werden
— mehr direkte Demokratie einzuführen
— nach einem längeren Beratungsprozess das Volk über seine Verfassung abzustimmen zu lassen (wie das auch mal vorgesehen war).
Nichts davon ist passiert.
Stattdessen wurde das „alte“ GG in den letzten Jahren durch immer neue Ideen aufgebläht – nicht zuletzt durch ideologische Festlegungen wie die Schuldenbremse oder das „Sondervermögen“ Bundeswehr, die beide in einer Verfassung nichts zu suchen haben: Das GG wurde missbraucht, um die eigenen politischen Vorstellungen gegen Parlamentsbeschlüsse mit einfacher Mehrheit abzusichern.
Helmut Höft
24. Mai 2024 @ 10:22
Wäre ich ein “Ossi” würde ich auch in den Chor einstimmen: “Euer Grundgesetz? Was hab’ ich denn damit zu tun? Ich dachte wir machen gemeinsam eine Verfassung?” Bekannt ist, dass die Politniks aus dem Westen genau das nicht wollten! “Ei wo komme mir dann do hie? Dess wolle mir nedd!”
Herrmann Hirn
24. Mai 2024 @ 13:10
Weil die Gefahr einfach viel zu hoch ist, am Ende mit einer schlechteren, schon vom Text her noch weniger schützenden Verfassung heraus zu kommen.
Wer so etwas fordert, möge mir ein, besser 3 Beispiele mitteilen wo das abschaffen einer bewährten Verfassung nach 40 Jahren und entsprechender Rechtsprechung zu einem positiven Ergebnis führte.
Dass man das als Deutschland mit entsprechender Weimarer Erfahrung nicht machte um dann mit 14 Millionen die jene 40 Jahre Diktaturschädigung hinter sich hatten/immer noch haben, ohne Bedarf eine komplett neue Verfassung zu schreiben -Positive Lehren aus 12 J. Diktaturerfahrung sollen sich ja auch schon im GG finden-, ist jedenfalls nachvollziehbar aber ändern nichts an all den Fehlern die im Einigungsprozess außerdem gemacht wurden und weiterhin werden.
Helmut Höft
24. Mai 2024 @ 18:50
Sry, ich würde nicht davon ausgehen, dass eine Verfassung schlechter sein muss – im Ergebnis – als das was man schon hat, es wäre in jedem Fall etwas Gemeinsames gewesen. Und wenn das Ergebnis gewesen, GG ist das Beste für uns alle, dann wäre es ein gemeinsames Ergebnis gewesen und könnte nicht als etwas Aufgezwungenes verstanden werden.
Arthur Dent
23. Mai 2024 @ 21:10
„dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben…“ – nicht so ganz. Die Väter und Mütter des GG (die verfassungsgebende Versammlung) wurden nicht vom Volke gewählt, sie wurden entsendet. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde nicht durch Volksabstimmung legitimiert (eine bundesweite Volksabstimmung sieht das GG bis heute nicht vor). Das deutsche Volk hat sich nicht gegeben, dem deutschen Volk wurde gegeben (das GG wurde dem Volk sozusagen von der „Obrigkeit“ überreicht. In Deutschland ging nicht die Volkssouveränität der Verfassung voraus). Diesen Lapsus betrachtete man durch die hohe Wahlbeteiligung dann als „geheilt“- das GG stand aber gar nicht zur Wahl, sondern nur Parteien.
Alle Staatsgewalt hat dem Wohl des Volkes zu dienen. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen der Demokratie. Der Staat und alle Personen, derer er sich in seinen Ämtern bedient, sind um der Bürger willen da und haben eine rein dienende Funktion.
Das Europäische Parlament wird von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählt. Allderdings kann von einer Gleichheit der Wahl nicht die Rede sein, da die Länder eine vorgegebene Anzahl von Abgeordneten ins Parlament schicken.Das ist mit dem Grundsatz der Stimmengleichheit (one man, one vote) unvereinbar.
Die Gesetzgebungsinitiative steht nicht dem Parlament, sondern der Europäischen Kommission zu. Das demokratische Defitzit wird umso problematischer, je mehr Befugnisse die Gemeinschaft erhält. Im Grund müssten wieder große Teile der Souveränität an die Mitgliedsstaaten rückübertragen werden.
WBD
23. Mai 2024 @ 18:18
Ich trage meine Ausgabe des Grundgesetzes grade nicht unter dem Arm – aber spontan fallen mir weitere vergessene Artikel ein:
Art 5 – Eine Zensur findet nicht statt
Art 14 – Eigentum verpflichtet
Auch hier ist das Grundgesetz in Not – bei Artikel 5 ist bgrade erst die Zensur zur Staatsräson erhoben worden, Artikel 14 ist leider nur ein ‚Stehrumchen‘.
Aber es wird noch mehr geben…
ebo
23. Mai 2024 @ 20:50
Stimmt, mit der Zensur war auch noch was…
Ute Plsss
23. Mai 2024 @ 17:01
“P.S. Von der neuerdings gern zitierten “Staatsräson” steht übrigens nichts im Grundgesetz!”
Sehr sehr hörenswert das Gespräch mit Charlotte Wiedemann:
“Staatsräson gefährdet Grundrechte”
https://youtu.be/MuLcqi0m1KY?si=w962DVq79hu0mTLe