Konsens kaputt (gekürzt)
Belgien hat den Daumen über Ceta gesenkt. Auch massiver Druck der EU konnte die Wallonen nicht umstimmen. Zuvor war Belgien schon mit Terror und Sozialprotesten in den Schlagzeilen. Was ist da los?
[dropcap]D[/dropcap]as kleine Königreich zahlt nun den Preis für die extreme Regionalisierung, die auf Druck der Flamen zustande gekommen war. Nicht nur die belgischen Parteien sind völlig zersplittert, auch die Handelspolitik wird in den Regionen mitentschieden.
Nur wenn alle drei Regionen – die Wallonie, Flandern und Brüssel – der Föderalregierung ein Mandat erteilen, kann Premier Michel grünes Licht für Ceta geben. Genau darum ging es bei dem letzten, gescheiterten Schlichtungsversuch am Montag.
Bisher war Belgien für seine oft langwierige, aber immer erfolgreiche Konsenssuche bekannt. Belgische Premierminister gelten sogar europaweit als Spezialisten für Kompromisse, oft wurden sie von der EU in schwierigen Fragen zu Hilfe gerufen.
Doch mit Michel geht diese Ära nun zu Ende. Nicht nur bei Ceta ist er gescheitert. Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hinterlässt der liberale Politiker verbrannte Erde.
Gegen seine Kürzungspolitik – zuletzt verkündete Michel (im Einklang mit der EU-Kommission) harte Einschnitte ins Gesundheitsbudget – gab es schon mehrere Generalstreiks.
Das aufgeheizte soziale Klima ist einer der Gründe, weshalb die Sozialisten so störrisch sind. Gerade erst hat der US-Konzern Caterpillar mehrere tausend Jobs in der einstigen Industrieregion gestrichen, mit Ceta fürchten nun die Bauern um ihre Existenz.
Ein anderer Grund liegt in der Politik. In Belgien gibt es keine landesweiten Parteien mehr, die Sozialisten in der Wallonie haben mit ihren Genossen in Flandern nicht viel zu tun.
Normalerweise müsste Michel zurücktreten
Zudem sind die Sozialisten auf nationaler Ebene in der Opposition – sie wollen und können Michel nichts schenken. Zuletzt haben sie ihren Kurs sogar noch verschärft.
So wies Ministerpräsident Magnette ein Kompromisspapier, das die EU-Kommission vorgelegt hatte, als unzureichend zurück. Und Sozialisten-Chef Di Rupo sagte, Ceta müsse neu verhandelt werden, was noch „mehrere Wochen“ dauern könne.
Belgien bleibt also in den Schlagzeilen. Die Schuld dafür liegt aber weniger als bei den Wallonen, als bei Premier Michel, der sich nicht rechtzeitig um Konsens bemüht hat. Normalerweise müsste er zurücktreten…
bluecrystal7
25. Oktober 2016 @ 19:17
Die Wallonen sind bei ihrem Widerstand gegen CETA auf jeden Fall nicht alleine. Die Niederländer haben für die Wallonie demonstriert: http://www.neues-deutschland.de/m/artikel/1029668.ceta-niederlaender-demonstrieren-unterstuetzung-fuer-wallonie.html
Ute Plass
25. Oktober 2016 @ 13:42
@OXIgen : Man sollte die Wallonier anfeuern, mit einem klaren NON das Ding endlich ganz vom Tisch zu kriegen!
Unbedingt – dazu geht’s hier entlang:
https://www.global2000.at/wallonie-ist-nicht-allein 🙂
Peter Nemschak
25. Oktober 2016 @ 12:23
@S.B. Auch innerstaatlich muss die Minderheit Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, warum nicht auch zwischenstaatlich?
S.B.
25. Oktober 2016 @ 16:37
@Peter Nemschak: Das von mir beschriebene Problem gibt es selbstverständlich auch innerstaatlich. Akzeptieren muss das die jeweilige Minderheit nur, weil es eine staatliche Gewalt gibt, die von der Mehrheit eingesetzt (missbraucht) wird, um auch die Minderheit für ihre Interessen einzuspannen, also haften zu lassen. Das würde es bei mir ebenso wenig geben.
Ein sehr gerechtes Prinzip ist: Leute, die ein gemeinsames Interesse haben, schließen sich dafür zusammen und haften auch für die Folgen. Wer nicht mitmachen will, macht nicht mit und kann auch nicht gezwungen sowie auch nicht materiell haftbar gemacht werden.
Es wäre z.B. unheimlich interessant zu sehen, wie viele Migranten sich in D aufhalten würden, würde dieses einfache Prinzip von Verantwortung und korrespondierender persönlich Haftung angewandt und nicht die Allgemeinheit ungefragt in Haftung genommen werden.
Peter Nemschak
26. Oktober 2016 @ 06:04
Sie werden nicht vermeiden können, dass selbst in einer idealen Gesellschaft, in der die Mitglieder viele Interessen teilen, es immer wieder zu Interessenskonflikten kommt. Die Menschen sind eben verschieden. Anders als durch Mehrheitsbeschlüsse würde der Entscheidungsprozess nicht funktionieren. Der Minderheitenschutz hat enge Grenzen. Bei den nächsten Wahlen können sich andere Mehrheiten bilden. Die bisherige Minderheit kann Mehrheit werden. Ihre Vorstellung von Demokratie erscheint etwas weltfremd zu sein.
J.Klos
25. Oktober 2016 @ 11:11
Falsch!
Wenn alle vier Regionen. Sie vergessen die deutschsprachige Gemeinschaft welche nach der belgischen Verfassung die gleichen Rechte hat wie die anderen drei Regionen.
Somit könnte das ganze auch an 70.000 Einwohner noch scheitern.
Bis dato bleibt der hiesige Ministerpräsident O. Paasch bei seinen Nein.
J. Klos
25. Oktober 2016 @ 11:21
Paasch: Wir haben Ceta nicht zugestimmt
DG-Ministerpräsident Oliver Paasch hat Premierminister Charles Michel korrigiert, der behauptet hatte, die DG-Regierung habe sich am Montag für das CETA-Abkommen ausgesprochen.
OXIgen
25. Oktober 2016 @ 10:13
Wozu sollte denn ein Konsens gut sein? Um ein Abkommen durch zu boxen, das ein Großteil der Europäer (vielleicht inzwischen sogar die Mehrheit?) ablehnt und das nur dazu dient, die angestrebte internationale Konzerndiktatur zu zementieren? Europa braucht weder CETA noch TTIP und inzwischen nicht mal mehr die EU, die nur noch als Handlanger eben jener Finanzeliten agiert.
Käme CETA durch, dann käme durch die kanadische Hintertür auch TTIP, wenn auch nicht ganz so brutal wie gewünscht und Kanada hätte überwiegend eine Strohmann-Funktion für die USA. Noch nie in der Geschichte hat ein Land durch ein Freihandelsabkommen mit den USA profitiert, es ist stets das Gegenteil eingetreten. Man sollte die Wallonier anfeuern, mit einem klaren NON das Ding endlich zu ganz vom Tisch zu kriegen!
Peter Nemschak
25. Oktober 2016 @ 11:22
Dass ein Großteil der Europäer CETA ablehnt, ist eine unbewiesene Behauptung.
GS
25. Oktober 2016 @ 15:01
Da lebst Du aber in einer Traumwelt. Für Deutschland gibt es z.B. Umfragen: http://www.zeit.de/news/2016-09/16/deutschland-umfrage-mehr-gegner-als-befuerworter-von-ceta-in-deutschland-16081802
Man kann natürlich alles ignorieren, was einem nicht passt, Peter.
S.B.
25. Oktober 2016 @ 10:06
Warum um Gottes Willen darf ein Land nicht einfach Nein sagen, sondern es müssen unbedingt – zumeist faule – Kompromisse ERZWUNGEN werden?
Wenn ich meinen Arbeitgeber frage, ob ich für das gleiche Geld nur noch die Hälfte der Zeit arbeiten muss und er nein sagt, versuche ich ja auch nicht, ihn im Nachgang zu einem Kompromiss zu ZWINGEN. Meine Güte, ist das ein krankes System, in dem ein Nein einfach nicht akzeptiert werden kann.
Aber wie sagte Merkel zuletzt mit Blick auf die AfD: „Die AfD ist eine Partei, die weiß immer, was gerade nicht geht: was schlecht ist, wo man Nein sagen muss, Finger in die Wunde legen muss“. Doch werde das Leben davon nicht besser.
Klar, allein deshalb, weil man Ja sagt (am besten zu dem, was schlecht ist!), wird das Leben besser. Das ist die völlig verquerte Merkel-Logik, die ganz offenbar auch auf EU-Ebene gilt.
Peter Nemschak
25. Oktober 2016 @ 11:19
Daher brauchen wir ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das gilt insbesondere für die Zukunft des Euro. Handelsabkommen einer Staatengemeinschaft in innernationale Föderalismuskonflikte hineinziehen zu lassen, ist ein Zeichen für einen schweren Konstruktionsfehler der EU. So ein Thema hat auf Ebene der Kommission entschieden und vom europäischen Parlament abgesegnet zu werden. Warum kommt die Schweiz mit ihrem 4 Sprachen-Föderalismus besser zurecht als Belgien? Beides sind kleine Länder.
S.B.
25. Oktober 2016 @ 11:40
@Peter Nemschak: Das ist kein Konstruktionsfehler, sondern eine ganz bewusste Folge davon, dass die an der EU teilnehmenden Ländern eben nur dann etwas gemeinsam machen, wenn sie auch alle gemeinsam zustimmen. Dieses Verfahren ist ein Grundbaustein im friedlichen Miteinander. Können dagegen Länder überstimmt werden, kommt der (unsägliche) Mechanismus in Gang, dass sich eine Minderheit einer Mehrheit beugen muss. Dies führt immer zu Unfrieden, da die Minderheit (gefühlte) Nachteile in Kauf nehmen muss, die sie ganz bewusst nicht in Kauf nehmen will.
Können sich also nicht alle Beteiligten auf eine Sache einigen, dann wird sie nicht umgesetzt. In diesem Fall können sich diejenigen, die interessiert sind, entsprechend zusammentun und andere, die nicht interessiert sind, verbleiben beim Status quo.
Es gibt keinen Grund, von diesem Frieden stiftenden Prinzip abzuweichen und – wie von Ihnen vorgeschlagen – von oben herab zu diktieren („So ein Thema hat auf Ebene der Kommission entschieden und vom europäischen Parlament abgesegnet zu werden.“).
Dieses Verfahren mag der EU und ihren Institutionen weniger Kompetenzen zugestehen, die Fakten schaffen. Es steht aber ganz im Zeichen des Subsidiaritäts-Prinzips, das Grundlage der Teilnahme von Ländern in der EU ist.
bluecrystal7
25. Oktober 2016 @ 19:09
Ja eben! Dasselbe hab ich mir auch gedacht… Nein heißt nein! Aber das akzeptiert man ganz offenbar in dieser EU nicht… Siehe Griechenland, da war es ja genauso.