Schonungslose Bilanz
Am Montag nimmt die neue EU-Kommission ihre Arbeit auf. Kommissionschef Juncker will “die Ärmel hochkrempeln”, um den “versprochenen Neubeginn für Europa zu schaffen”. – Was sollte er zuerst tun? Nötig wäre eine Abrechnung mit der Barroso-Ära.
- Schonungslose Bilanz: Wie jede neue Regierung sollte Juncker einen Kassensturz durchführen und eine Bilanz der letzten Jahre vorlegen. Warum ist die EU im weltweiten Wettbewerb zurückgefallen? Wieso haben sich die Unterschiede innerhalb Europas seit der Finanz- und Eurokrise noch verstärkt? Reichen die Finanzmittel, um die Versäumnisse zu beheben und die Union zu stärken?
- Alle Politiken auf den Prüfstand stellen. Die alten EU-Strategien sind an ihre Grenzen gestoßen. Marktöffnung, Liberalisierung und Privatisierung sollten Wachstum und Jobs schaffen. Doch daraus wurde nichts. Auf den Prüfstand gehören auch neue, bisher unerfüllte Versprechen wie die Jugendgarantie und bürokratische Prozeduren wie das Europäische Semster.
- Neue, realistische Ziele definieren. Bisher hat die EU fast alles versprochen und nur wenig gehalten. Juncker sollte daher realistische, überprüfbare Ziele definieren. Wo wollen wir in fünf Jahren, am Ende der Amtszeit der nächsten EU-Kommission, stehen? Wieviele neue Jobs, welche Investitionen will und kann die EU anstoßen? Daran muss er sich messen lassen.
- Neue Mittel mobilisieren. Juncker hat ein Investitionsprogramm über 300 Mrd. Euro angekündigt – doch die Finanzierung ist unklar. Wenn er es ernst meint, muss er neue Finanzmittel mobilisieren – über eigene EU-Steuern (wie im Lissabon-Vertrag vorgesehen), neue Projektbonds (werden schon erprobt) oder einen Investitionsfonds, wie ihn der DIW vorschlägt.
- Sich von den Hauptstädten emanzipieren. Noch-Kommissionschef Barroso holte sich für alle wichtigen Vorschläge erst eine Genehmigung in den nationalen Hauptstädten, zuletzt vor allem in Berlin. Damit hat er der EU-Kommission ihre Rolle als Motor genommen. Juncker muss diese Rolle wiederfinden – und sich dafür auch von Kanzlerin Merkel emanzipieren.
- Großbritannien härter rannehmen. Der britische Premier David Cameron wollte nicht nur mit aller Gewalt Juncker verhindern. Er möchte seinem Land auch neue Sonderrechte sichern und den EU-Vertrag aushebeln. Doch damit legt er die Axt an die Union. Schon aus Selbstachtung sollte Juncker Großbritannien daher härter rannehmen und neue Extrawürste verweigern.
- Einen symbolischen Bruch wagen. Damit der Neustart gelingt, muss Juncker Zeichen setzen. Die Abschaffung der in Südeuropa verhassten Troika wäre so ein starkes Symbol. Wünschenswert wäre auch ein Neustart der Verhandlungen mit den USA über ein Freihandels-Abkommen (TTIP). Ein solcher symbolischer Bruch würde signalisieren, dass es Juncker wirklich ernst meint.
- Die Kommission neu organisieren. In Brüssel redet schon jetzt alle Welt von Clustern, die wichtige Themen wie Energie oder Wettbewerb politisch und personell bündeln sollen. Doch das reicht nicht aus. Juncker muss die Kommission auch endlich transparent und rechenschaftsplichtig machen – mit Abstimmungen und Auswechselungen, wenn ein Kommissar versagt.
- Das Europaparlament stärker einbinden. Um seine Legitimation zu stärken und die übermachtigen Staats- und Regierungschefs zurückzudrängen, sollte Juncker das Europaparlament stärker einbinden. Das gilt vor allem für alle Themen rund um den Euro. Sinnvoll wäre es aber auch, Vorschläge der Abgeordenten für neue Gesetze aufzugreifen und so mehr Demokratie zu wagen.
- Die Bürger direkter ansprechen. Unter Barroso hat sich die EU in ihrem „Raumschiff Brüssel“ verschanzt. Juncker kann ein Neustart nur gelingen, wenn er auf die Bürger zugeht und die Zivilgesellschaft stärker einbindet. Man müsse mehr auf Ängste und Schutzbedürfnisse eingehen, hat EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy gefordert. Der Mann hat Recht.
Dies ist ein Repost meines Beitrags “Neustart in zehn Punkten” vom 20.7.14. Das Original steht hier. Siehe zu diesem Thema auch meine aktuelle Umfrage
winston
5. November 2014 @ 06:10
@ Ebo
Tsirpas ist zwar gegen die Austeritätspolitik Merkels, (das war Holland auch) sieht aber das Grundproblem nicht, den Euro. Tsirpas ist für den Euro und damit für Austerität.
Austerität ist die Folge der Gemeinschaftswährung Euro.
Das bestätigt mittlerweile die gesamte Wirtschaftswissenschaftliche Akademische Gemeinde ausserhalb Europas.
Ich hoffe Podemos macht nicht den gleichen Fehler.
Das Problem der Linken ist, das sie ein Scheitern des Euros als Niederlage ihres Europäischen Traumes sehen. So blenden sie alles aus und halten am Euro fest, koste es was es koste.
In Südeuropa findet absolut keine Diskussion über die Europroblematik statt, dieses Problem wird völlig ausgeblendet und stattdessen den Euro in höchsten tönen gelobt und Ein Euro break- up als Apokalipse dargestellt. Das ist m. E. kriminell.
Michael
4. November 2014 @ 08:23
1) Eine neue Regierung macht nur dann einen “Kassensturz” oder eine schonungslose Analyse der vorgefundenen Situation, wenn sie durch einen Machtwechsel zB nach einer Wahl ins Amt gekommen ist. Die Kommission besteht dagegen wie bisher aus von den Mitgliedstaaten nominierten Personen. Zudem wurde sie von einem Parlament bestätigt, in dem sich eine Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten darauf verständigt hat, jeden von einer der beiden Seiten nominierten Kandidaten durchzuwinken. Und schließlich: Barroso galt als Merkels Mann; Juncker wurde von Merkel vorgeschlagen. Wo ist die revolutionäre Änderung?
3) Realistische Ziele zu definieren ist ein guter Ansatz. Wie wäre es mit: Die Stimmung zwischen den europäischen Nationen soll sich möglichst wenig weiter verschlechtern? Das Parlament scheint dagegen eher möglichst hochfliegende Pläne zu schätzen und Bescheidenheit zu strafen. (Um nach fünf Jahren erstaunt und enttäuscht zu sein).
5) Sich von den Hauptstädten emanzipieren: Die Kommission kann Vorschläge machen, aber für praktisch alles außer den laufenden Geschäften ist sie auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten (und häufig auch auf die des Parlamentes) angewiesen. Sie kann sich daher genausowenig von den Mitgliedstaaten emanzipieren wie eine parlamentarische Regierung vom Parlament.
6) “Großbritannien härter rannehmen”: Ich erinnere nur daran, dass die Mitgliedstaaten jederzeit die Möglichkeit haben, die Verträge nach Belieben zu ändern. Aus diesem Grund steht GB hier nicht der Kommission gegenüber, sondern den anderen Mitgliedstaaten. Solange diesen die Mitgliedschaft Großbritanniens wichtiger ist als das puristische Beharren auf Prinzipien und sie zu Ausnahmebestimmungen für GB bereit sind, kann die Kommission nichts machen. Wenn den anderen Staaten etwas wirklich wichtig ist, werden sie es an GB vorbei durchziehen, wie zB den Fiskalpakt.
winston
3. November 2014 @ 14:06
Euroskeptische Parteien legen in ganz Europa zum teil massiv zu.
Ein regelrechter Boom bei Sinn Fein in Irland und Pademos in Spanien.
Pademos ist von 1.5% (2011) auf 27% (2014) gestiegen.
Sinn Fein ist klar Euroskeptisch, bei Pademos weiss ich nicht wie die zum Euro stehen, sind allerdings klar gegen die Austeritätspolitik Merkels, ähnlich wie Tsirpas. Alle drei Links, die letzten zwei kann man schon fast als Linksradikal bezeichnen.
In Österreich liegt die FPÖ knapp vorne.
In Holland liegen die Euroskeptiker von PVV auch vorne. Die lagen 2012 noch bei 15% heute auf 28% gestiegen.
Schweden, Frankreich und England muss man nicht weiter erwähnen.
Auch in Osteuropa beginnt sich der Euroskeptizismus breit zu machen. Ok bei den Ungarn war das klar, aber Polen, Slowakei, Tschechien weniger
Und zu guter Letzt noch dies.
Rebellen reissen Macht an sich. (Guter Job gemacht Steinmeier, gratuliere)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-alexander-sachartschenko-gewinnt-umstrittene-wahl-a-1000654.html
ebo
3. November 2014 @ 14:59
Du hast Griechenland vergessen, Tsipras ante portas!?
Peter Nemschak
3. November 2014 @ 12:42
Die Chancen für einen Neubeginn könnten sich in den letzten Monaten verbessert haben, da die nationalen Interessen der Mitgliedsländer unter dem steigenden Druck der für alle negativen wirtschaftlichen Entwicklung heute tendenziell konsensbereiter als noch vor einigen Monaten werden; dies unter der Annahme, dass, vielleicht mit Ausnahme Großbritanniens, die politischen Eliten an einem Zerfall des Euro und der EU kein Interesse haben. Politik war in der derzeitigen Phase des Zukunftspessimismus bisher reaktiv statt pro-aktiv, d.h. risikoscheu und auf Besitzstandsicherung bedacht. Daran konnten auch die niedrigen Zinsen der EZB bisher nichts ändern. Hoffentlich muss es vor dem Wendepunkt nicht noch schlechter gehen.
Marcel
2. November 2014 @ 19:24
Endlich ist Barroso weg vom Fenster. Ob Herr Junker es besser machen wird, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube eher, dass sich Junker kurz widersetzt und dann nachgibt. Den Herr Junker sieht nicht nach einem Kämpfer aus.
Johannes
2. November 2014 @ 17:24
Wie immer hier: Deutschland soll gefälligst zahlen. Gemeinsame Arbeitslosenkasse, Deutschland soll zahlen und den eigenen Standard runterschrauben. Investitionsprogramm für schlappe 300 Mrd. , Deutschland soll zahlen.
Diese deutschfeindlichkeit nervt, anders kann man es nicht mehr beschreiben. Aber hey, Deutschland ist ja an allem Schuld in der Welt, da muss man Deutschland bestrafen.
Ein Europäer
2. November 2014 @ 17:20
Die Ära Barroso ist nun Vergangenheit . Gott sei dank !
Starke EU-Präsidenten waren immer auch politische Köpfe , wie eins Jacque Delor, die den Konflikt nicht scheuten.
Der Herr Juncker muss Europa neu justieren und dazu muss er Selbständigkeit, Neutralität und Autorität zeigen.
Viel Glück Herr Juncker und bitte enttäusche uns nicht !