Schlimmer als die Papstwahl
Wann fällt die Entscheidung über die Hilfe für Griechenland? Und wie? Die Entscheidungsprozesse in Brüssel sind komplizierter und undurchsichtiger als im Vatikan – sie verwischen die politische Verantwortung.
Seit Donnerstag Abend um 22 Uhr liegt das Sparpaket aus Athen in Brüssel. Doch 24 Stunden später lag immer noch kein Urteil im wohl wichtigsten Prozess der EU-Geschichte vor. Das hat seine Gründe.
Denn am Freitag wurde Stillschweigen vereinbart. Erst tagte die Troika (am Telefon), dann wurden diverse Analysen etwa zur Schuldentragfähigheit erarbeitet – ein technokratischer Vorgang.
Am Samstag Morgen treffen sich die Experten der Euro Working Group, dann kommt der Austeritäts-Club (genannt Eurogruppe) – und erst ganz zum Schluss, am Sonntag, die große Politik.
Technokraten zuerst, Politiker zuletzt
Insgesamt ein undurchsichtiger Prozess, bei dem nicht gewählte Technokraten und demokratieferne Institutionen die Weichen stellen und die politische Verantwortung systematisch verschleiert wird.
Noch absurder ist aber der Entscheidungsbaum, der zum Urteil über Griechenland führen soll. Erst redet man – siehe oben – über die Schuldentragfähigkeit – aber nicht über eine mögliche Umschuldung (die kommt wohl erst im Herbst dran).
Danach soll es um Einsparungen und Reformen gehen – aber nicht unter volkswirtschaftlichen oder gar sozialen Aspekten, sondern mit Blick auf die Vorgaben des “aide mémoire” aus dem Berliner Kanzleramt.
Hilfe gegen den Kollaps erst ganz zum Schluss
Erst im dritten Schritt redet man dann über das Hilfsprogramm – aber nicht darüber, wie es am besten hilft, sondern unter dem Aspekt, ob und wann die Verhandlungen aufgenommen werden können.
Und erst danach, ganz zum Schluss (so stellte es jedenfalls die Kanzlerin dar) soll es um kurzfristige Geldspritzen gegen die akute, vom Eurosystem bewusst herbeigeführte Not im griechischen Finanzsektor gehen.
Das ist so, als würde man einem Patienten bei der Notaufnahme sagen, man könne ihn erst behandeln, wenn seine Lebenserwartung für die nächsten Jahre zweifelsfrei geklärt sei.
Es geht nicht um den Patienten Griechenland
Auf die Idee, erst den angerichteten Schaden bei den Banken und Bürgern zu reparieren, dann erfolgsorientiert zu verhandeln und schließlich ein neues Hilfsprogramm aufzulegen, ist niemand gekommen.
Im Kern geht es nämlich nicht darum, den halbtoten Patienten Griechenland und seine rebellischen Bürger zu retten – sondern darum, die alten und neuen Kredite der Gläubiger abzusichern…
…und außerdem wollen sich die EU-Granden die Möglichkeit des Scheiterns (also den Grexit) offenhalten. Anders als im Vatikan kam man diesmal nicht sicher sein, dass am Ende weißer Rauch aufsteigt!
Siehe zu diesem Thema auch “Absurdes Prozedere”
S.B.
13. Juli 2015 @ 09:22
Damit mir niemand vorwirft, ich sei ein “Euro-Reaktionär”, lege ich jedem die Lektüre dieses Artikels aus dem Jahre 2011 (!) aus dem Spiegel nahe: “Eine Bombenidee”. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-80652382.html
S.B.
13. Juli 2015 @ 09:14
“solidarisches Europa”, “ökologisch-solidarische Ökonomie”, “repressionsfreie Existenzsicherung”… Wenn mir diese Worthülsen begegnen, kenne ich schon das Funktionsprinzip: Die einen gehen arbeiten, die anderen leben auf deren Kosten. Diesen “solidarischen” Zustand haben wir gerade und er neigt sich glücklicherweise mit großen Schritten dem Ende zu. Danach wird wieder jeder Bürger und jeder Staat nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten leben, was EIGENE Anstrengungen vorausetzt. Das Europa der Vielfalt wird wieder zurückkehren und zwar auch und insbesondere in diesem Sinne.
Nach dem Scheitern und damit Ende des in dieser Form unsäglichen Projektes “geeintes Europa” wird es weder in den einzlenen Staaten noch zwischenstaatlich Transferleistungen im derzeitigen, riesigen Umfang geben (wenn überhaupt). Der völlig überbordende Wohlfahrtsstaat, wie er derzeit mit seinen unfassbaren Auswüchsen existiert, wird eingestellt, da ohnehin nicht finanzierbar. Wer sich dann noch einen Sozialstaat leisten kann und in welchem Umfang, wird sich zeigen.
Ute Plass
12. Juli 2015 @ 17:18
Griechenland und damit Europa sind mit fiskaltechnischen Mitteln nicht zu “retten”.
Vielmehr braucht es die Förderung und Stärkung von Gemeinschaft als soziale Gemeinschaft damit ein solidarisches Europa wachsen kann, und auch dieses muss
sich als Teil der Weltgemeinschaft entsprechend entwickeln im Sinne eines guten Lebens für alle Menschen.
Eine sog. Währungsgemeinschaft, in der die einzelnen Nationalstaaten gegeneinander wirtschaften und konkurrieren um die Profite der Reichen noch reichlicher anzuhäufen ist sicherlich nicht zielführend. Höchste Zeit die Weichen zu stellen für eine ökologisch-solidarische Ökonomie!
Eine repressionsfreie Existenzsicherung wäre schon mal ein Schritt in diese Richtung.
Finnland, Niederlande u. andere gehen schon mal voran 🙂
winston
12. Juli 2015 @ 09:40
Alle 70 Jahre fangen die Europäer an zu spinnen. (Edward Luttwak)
Da ist nix mehr hinzuzufügen, leider.
Eine Währungsunion zu bilden mit einem Land das stark auf Merkantilismus ausgerichtetem ist, ist makroökonomisch unmöglich. Ein völliger Irrsinn, mit integrierter Zeitbombe.
winston
12. Juli 2015 @ 09:21
Aktueller Zustand der Euro-Zone graphisch dargestellt. :-)))) (Cartoon von Euro Spin)
Da wird sich nix gross ändern, bis das Boot ganz absäuft.
Na dann, Prost, Mahlzeit.
https://twitter.com/EURefNO/status/620008947731312640
GS
12. Juli 2015 @ 00:20
Der Samstag ist also schon einmal ergebnislos verstrichen. Die Eurogruppe ist mittlerweile anscheinend tief gespalten. In Finnland gibt’s ne Regierungskrise wegen möglicher Hilfen. Mit den Finanzministern kommen wir nicht weiter.
ebo
12. Juli 2015 @ 00:39
Ich sag’s ja, schlimmer als der Vatikan. Dabei war Varoufakis gar nicht dabei 🙂 Morgen wird’s lustig, wenn Italien und Frankreich mit Deutschland crashen!
Carlo
11. Juli 2015 @ 17:24
Der Bericht des IWF vor dem Referendum in GR war ein geschickter Schachzug der US-amerikanischen (unsichtbaren) Seite am Verhandlungstisch. Tsipras und seine Leute hatten den Plan, die Maßnahmen der letzten fünf Jahre zu diskutieren und neu zu verhandeln. Sie hatten keinen Plan dafür, dass ihre Verhandlungspartner unbeweglich bleiben und dadurch GR ins Chaos gestürzt werden könnte. Aber Chaos in GR wäre das letzte, was die USA in der aktuellen geostrategischen Situation brauchen können.
So wurde der IWF in die Spur geschickt, um zu verkünden, dass ein Schuldenschnitt absolut notwendig sei. Tsipras nahm den Ball auf und legt nun den Verhandlungspartnern deren eigene Vorschläge wieder auf den Tisch. Diesmal mit der, durch USA und IWF bestätigten, Forderung nach einem Schuldenschnitt.
Wenn das so durch geht, gibt es fast nur “Gewinner”. Der eine fährt nach Athen und erklärt, dass er einen Schuldenschnitt erreicht hat. Die anderen fahren in ihre Hauptstädte und verkünden, dass GR die ursprünglichen Forderungen doch schlucken musste. Die USA sind froh, dass alles bleibt, wie es ist.
Das griechische Volk gehört in keinem Fall zu den Gewinnern. Und die anderen Völker der Eurozone werden die Zeche zahlen, weil die EZB immer noch behauptet, dass die griechischen Staatsanleihen, auf denen sie sitzt, von unermesslichem Wert sind.
Die europäische Politik ist nur noch ein Trauerspiel.
Nocheiner
11. Juli 2015 @ 15:52
Und wieso haben dann deutsche und französische Banken voran den Griechen fröhlich Geld geliehen? Und nicht vorher die Kreditwürdigkeit geprüft? Klientelismus, Korruption etc. waren in Griechenland nicht erst seit der Bankenkrise auf einmal da, sondern schon lange.
Ehrlicher wäre es gewesen, Griechenland hätte 2010 den Bankrott erklärt und die jeweiligen geldgebenden Banken hätten bei ihren eigenen Staaten um Hilfe betteln sollen. Jetzt leiden Milliionen Menschen, die am wenigsten dafür können…
Nemschak
11. Juli 2015 @ 12:52
Ja das tue ich, weil Griechenland die Bedingungen für weitere Kreditauszahlungen nicht erfüllt hat. Hätte Griechenland keine Tilgungen geleistet, wäre es bereits zu einem früheren Zeitpunkt zahlungsunfähig gewesen und hätte mit einer vorzeitigen Fälligstellung der Kredite rechnen müssen. Bei jedem Hilfspaket sind Rückzahlungen für alte Kredite betragsmäßig inkludiert. Sonst würde es technisch nicht funktionieren. Reformen wurden von den griechischen Regierungen der letzten Jahre immer wieder auf die lange Bank geschoben. Verständlich, dass damit irgendwann einmal Schluss sein muss. Dieser Zeitpunkt ist hoffentlich nunmehr gekommen. Ohne einen effizienten möglichst korruptionsfreien Staat, der bis heute in Griechenland fehlt, sind alle Hilfsgelder hinausgeworfenes Geld. Der Klientelismus blüht in Griechenland nach wie vor, nur heute unter anderen Vorzeichen. das hat auch Tsipras eingestanden. Was hat die griechische Regierung in den letzten Monaten dagegen unternommen? Statt großartiger ideologischer Belehrungen wäre konkrete praktische Arbeit für das Land und seine Finanziers vorteilhafter gewesen.
luciérnaga rebelde
11. Juli 2015 @ 19:27
Herr Nemschak, haben Sie sich mal vorgestellt wie das zu machen wäre: jahrzehntelange Korruption innerhalb fünf Monaten einfach wegzublasen? Es sind ja nicht nur die Korrupten, sondern auch die Korrumpierenden: z.B. die maroden U-Boote die DR den Griechen verkloppt hat…
Nemschak
11. Juli 2015 @ 11:31
Dass Beamte den Entscheidungsprozess vorbereiten, ist nicht ungewöhnlich, passiert auch laufend im nationalen politischen Entscheidungsprozess. Dass die Verantwortlichen in der EU auch die Interessen der Gläubiger, sprich ihrer nationalen Wähler vertreten müssen, ist verständlich. Immerhin sind die Bürger in den geldgebenden Ländern, verglichen mit der Anzahl der griechischen Wähler, bei weitem in der Überzahl. Außerdem macht es Sinn, zuerst die mittelfristige Lösung festzulegen, danach die kurzfristige Überbrückung darauf aufzubauen. Auch die griechische Regierung war im monatelangen Verhandlungsprozess nicht die schnellste. Derzeit läuft es ohnedies erstaunlich schnell, bedenkt man die schwerfällige Brüsseler Bürokratie.
ebo
11. Juli 2015 @ 12:15
Es läuft so schnell wie aus der Pistole geschossen… Das hat ein Showdown mit Ultimaten so an sich. War in WK1 auch nicht anders
Nemschak
11. Juli 2015 @ 12:26
Trauen Sie einer Regierung, die abwechselnd das eigene Volk und die Gläubiger hinters Licht führt? Die einzelnen Reformpunkte müssen nachvollziehbar festgelegt werden und die Nichteinhaltung sanktioniert werden. Das hat mit Ultimaten nichts zu tun, sondern mit der (späten) Einsicht, dass griechische Politik bisher notorisch unzuverlässig war.
ebo
11. Juli 2015 @ 12:40
Trauen Sie einem “Euroretter”, der seit einem Jahr keinen Cent mehr zu Rettung Griechenlands beigetragen hat, stattdessen Milliarden für die Tilgung kassiert und seit Februar systematisch das griechische Finanzsystem stranguliert?