Reformen nach Plan
Jetzt wird’s ernst: Laut einem Entwurf für den nächsten EU-Gipfel sollen sich künftig alle Eurostaaten zu Wirtschafts- und Sozialreformen verpflichten. Die Reformen sollen „in Vertragsform mit den EU-Institutionen“ festgelegt werden und Vorgaben der EU-Kommission folgen. Von demokratischer Mitwirkung ist keine Rede – erfindet Brüssel jetzt die Euro-Planwirtschaft?
Erst war es nur eine Idee von Kanzlerin Merkel: Um die Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer zu stärken, sollte der unverbindliche „Euro plus Pakt“ um verbindliche „Reformverträge“ ergänzt werden. Das werde wohl nur die „Programmländer“, also die Krisenstaaten, treffen, glaubten viele. Doch nun kommt der Clou: beim EU-Gipfel sollen sich alle Euroländer zu Reformen verpflichten – auch Deutschland.
Hier die entscheidende Passage aus dem Entwurf, den Ratspräsident Van Rompuy vorgelegt hat:
All Member States need to promote strong and sustainable economic growth, competitiveness and employment. To achieve this objective, all Member States whose currency is the euro will enter into individual arrangements of a contractual nature with EU institutions on the measures and reforms they commit to undertake and on the means for their implementation. Such agreements should be consistent with, and support, the overall policy mix resulting from the Annual Growth Survey and should allow a dialogue on the basis of the country-specific recommendations. Non euro area Member States may choose to enter into similar arrangements. The European Council notes the Commission intention to make a proposal in 2013 on specific ways to put in place such contractual arrangements and on the means to support their implementation, building on existing EU procedures.
Dieser Vorschlag wirft gleich mehrere Fragen auf: Wer sind die „EU-Institutionen“? Ist damit die EU-Kommission gemeint – oder nur der Währungskommissar, oder die Eurogruppe? Wie will man Verträge mit diesen Gremien schließen? Was wird aus der Selbstbestimmung der Euroländer, was aus demokratischer Kontrolle? Was passiert, wenn ein „Reformvertrag“ nicht eingehalten wird? Gibt es dann kein Geld mehr aus Brüssel? Oder Sanktionen?
Und: wie sollen diese Reformen überhaupt aussehen? Wird Deutschland verpflichtet, einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen? Muss Frankreich die Hartz-Gesetze beschließen? Soll Belgien die Lohnindizierung aufgeben? Wer sagt, was in Land A zu Wachstum führt, oder zu Wettbewerbsfähigkeit, oder zu mehr Jobs? Wieso überhaupt in dieser Reihenfolge? Wieso werden Wachstum und Jobs nicht gleichberechtigt mit den Defizitzielen in den Fiskalpakt aufgenommen?
Fragen über Fragen. Klar scheint nur eins: Wenn dieser Vorschlag tatsächlich umgesetzt wird, dann verändert die EU ihren Charakter. Von einer supranationalen Institution im Dienste der Mitgliedsländer würde sie zu einer Super-Institution über den EU-Staaten mutieren. Zudem wäre dies der erste Schritt weg von einer freiwilligen Koordinierung hin zu einer Euro-Planwirtschaft, in der die Staaten zu Befehlsempfängern der Brüsseler Bürokratie würden.
Das haben wir alles schon? Nein, liebe Leser, das haben wir noch nicht, aber das könnte uns blühen, wenn dieser Entwurf Wirklichkeit wird…
melina
7. Dezember 2012 @ 19:46
@ebo
So wie Hollande den Fiskalpakt nachverhandelt hat, nämlich überhaupt nicht, so wird er sich auch bei dem Reformpaket verhalten. Wahrscheinlich wird er versuchen, es den Franzosen als alternativlos zu verkaufen und sich schon mal in die Merkelsche Diktion einüben. Widerstand wird in Frankreich von der Straße kommen, aber gewiss nicht aus den Reihen der bourgeoisen Salon-Sozialisten. Ob dieser Widerstand, falls es ihn denn geben sollte, etwas bewirkt, wird sich erst noch zeigen müssen.
@Arnould
Mélenchon als stalinistisch zu bezeichnen, halte ich doch für etwas arg an den Haaren herbei gezogen. Er vertritt eine klare, pro-euopäische und sozialistische Politik, auch wenn er in diversen Details bisweilen etwas verwirrend auftritt. Was ich ihm persönlich übelnehme, ist, dass er mit seinem Aufruf zum „vote utile“ Hollande zur Macht verholfen hat, nur um den verhaßten Sarkozy zu erledigen. Er hätte wissen müssen, dass sich Hollande nicht vehement gegen Merkel&Co. stellen wird, sondern sich durchzuwinden versucht und dass er sich für die Wahlhilfe nicht erkenntlich zeigen wird. Dumm gelaufen.
@marty
Du hast es auf den Punkt gebracht: wer heute für Europa ist, muss gegen Europa stimmen! Wer unser altes „Europa der Herzen“ retten will, hat keine andere Wahl mehr, als gegen alles zu votieren, was es dem neofeudalen Brüsseler Monster erlaubt, sich hier dauerhaft und commod einzurichten – und uns mit Haut und Haaren aufzufressen. Was für eine bittere Ironie!
marty
7. Dezember 2012 @ 16:36
@Arnould: Ja, das Ganze ist völlig surreal geworden. Wofür und wogegen soll / kann man eigentlich noch stimmen? Und was heißt heutzutage überhaupt noch „für“ und „gegen“ Europa − oder „mehr Europa“? Frau Merkel redet ständig von „mehr Europa“ und meint damit die Stärkung Berlins (und die Festschreibung des Neoliberalismus). − Die neoliberalen Fanatiker haben leider unsere Sprache gekapert und die Bedeutung vieler Begriffe à la Orwell ins Gegenteil verkehrt. („Rettung“ = „Zerstörung“, „Hilfe“ = „Todesstoß“). Daher ist es gut, wenn sich Beobachter wie ebo immer wieder mal mit Anführungszeichen dagegen wehren („Hilfs“milliarden, „Rettungs“paket).
Wer für Europa ist (d.h. das Europa Robert Schumans), muss heute GEGEN Europa (d.h. Merkels neoliberales Gefängnis) stimmen − und wer gegen Europa ist, sollte ruhig dafür stimmen (und so den ökonomischen Abstieg Südeuropas [inkl. Frankreichs] beschleunigen).
Referenda sind aber leider auch keine Lösung − sie können von allen Beteiligten missbraucht werden. Zum Beispiel von nationalen Politikern (François Mitterand mit seinem unnötigen Vabanque-Spiel beim Maastricht-Referendum 1992 − das er um ein Haar verloren hätte). Leider missbrauchen auch viele Wähler EU-Referenda als nationale „Denkzettel-Wahlen“ (abgesehen davon ist die EU-Materie derart komplex, dass der „normale Wähler“ sie kaum beurteilen kann).
Ein weiteres Problem: man bekommt z.B. als dänischer oder irischer Wähler ein riesiges EU-Paket vorgesetzt, das man nur „en bloc“ ablehnen oder durchwinken kann (vgl. das erste irische Nizza-Referendum, wo viele Iren de facto gegen die Osterweiterung stimmen wollten − und damit das ganze Paket blockierten). −
Na ja, wenn die Wähler „falsch“ abstimmen, gibt’s nach einer Schamfrist von einem Jahr sowieso eine Wiederholung …
ebo
7. Dezember 2012 @ 12:27
@Arnould Wie Dir geht es bestimmt vielen Franzosen. Erst bringen sie die Verfassung zu Fall – nun kommt dasselbe Projekt durch die Hintertür wieder, nur viel schlimmer und noch dazu mit Frankreich als Juniorpartner Deutschlands. Ich bin mal gespannt, ob Hollande auch bei dieser EU“Reform“ mitmacht, oder ob er doch noch Widerstand leistet!
Mugel
7. Dezember 2012 @ 11:31
Bitte eins klarmachen: das sind nur spinnerte Gedanken einer Gruppe kranker Seelen die zu Papier gebracht wurden.
Also lasst uns diesen Schwachsinn ignorieren und moralische Grundsätze als Basis unseres Handelns anwenden. Allen Andersmeinenden gegenüber bin ich gerne bereit eine lange Nase zu zeigen. Die Säcke sind auf unsere Unterstützung angewiesen und die entziehen wir ihnen einfach.
Arnould
7. Dezember 2012 @ 09:53
Ich bin Franzose und habe damals, im Jahr 2005, gegen die europäische Verfassung gewählt. Nicht gegen Chirac, wie die Journalisten es mir dann erklärt haben, sondern gegen dieses Projekt, das ich von Anfang biz Ende gelesen hatte. Diese Verfassung ist dann trotzdem in Kraft getreten, und jetzt kommt noch mehr in die gleiche Richtung. Bis heute habe ich immer fur Parteien, die „für“ Europa sind, gewählt. Ab nun gehört meine Stimme gegen dieses Europa. Es stört mich sehr, dass ich hier in Frankreich nur die Wahl zwischen rechtsextrem (Le Pen ~ zumindest bonapartisch, vielleicht fassistisch) und linksextrem (Melenchon ~ stalinistisch) habe. Aber so ist es halt.
Johannes
7. Dezember 2012 @ 20:07
Genau das mit den Parteien ist mein Problem. Ich bin für Europa, ich will mehr Europa, ich will den Euro, mache aber nicht mehr jeden Mist wo Euro oder EU draufsteht mit. Was soll ich wählen, die Pro-EU Parteien sind verlogen, Nazis sind kein Thema, die Rechten in Deutschland spinnen, was soll ich noch wählen? Und überhaupt, was BIN ICH, bin ich ein Pro-Europäer, oder bin ich ein Anti-Europäer, oder bin ich was dazwischen? Für Medien und Politiker gibt es nur ein dafür oder dagegen, G.W.Bush dachte auch nur in schwarz / weiß!
marty
7. Dezember 2012 @ 03:28
@melina: „… alles, was der neoliberalen Zielsetzung dient, noch schnell in unumkehrbare Verträge zu meißeln, bevor sich der Zorn der Völker erhebt.“ Brillant formuliert! −
Das Schlimme daran: uns läuft die Zeit davon. Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden wir in Europa mit neoliberaler Propaganda (und Politik!) bombardiert − so was hinterlässt natürlich seine Spuren. Das kann man z.B. in England besichtigen, wo das neoliberale Fieber circa 10 Jahre früher ausgebrochen ist und sich dementsprechend schon „tiefer reingefressen“ hat. Auch Engländer, die sich für progressiv halten, haben (oft unbewusst) beträchtliche Teile des neoliberalen Dogmas verinnerlicht. Wie es in England so schön heißt: Wahlen zu gewinnen ist nicht übel − aber deine Gegner dazu zu bringen, deinen Diskurs und deine Kategorien zu übernehmen, das ist der wahre Sieg! (vgl. Tony „Bliar“ Blair) −
Bei unserer Bundestagswahl 2013 werden die Erstwähler − also die Jahrgänge 1992-1995 − wohl keine persönlichen Erinnerungen an die „vor-neoliberale“ Epoche haben. Hoffentlich erzählen ihnen wenigstens ihre Eltern von einer längst vergangenen Zeit, als Wirtschaftsstandorte noch „Länder“ genannt wurden und Arbeitnehmerrechte kein „Wettbewerbsnachteil“ waren, sondern die wichtigste Lehre aus dem Manchester-Kapitalismus.
(Linguistische Randnotiz zum Begriff „Dumping“: wir verwenden diesen Begriff in Deutschland sehr gerne, vgl. „Sozialdumping“, „Lohndumping“. In England wird eigentlich fast häufiger die Wendung „race to the bottom“ benutzt − die denkbar prägnanteste 4-Wort-Zusammenfassung des neoliberalen Wahnsinns − http://de.wikipedia.org/wiki/Race_to_the_bottom ).
melina
6. Dezember 2012 @ 23:54
Laut Eurostat Pressemeldung vom 3. 12. 2012 waren im Jahr 2011 rund 24%, also etwa 120 Millionen Menschen, der europäischen Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Zahlen für 2012 dürften noch wesentlich düsterer ausfallen. Das alles ist das Resultat sogenannter Reformen. Und diese „Reformen“ sind nichts anderes als brachialer Abbau von Sozialstrukturen sowie Arbeitnehmer-Rechten und fortschreitender Privatisierungen. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum sind lediglich das Deckmäntelchen für eine knallharte weitere Umverteilung von unten nach oben.
Ich schrieb es ja schon: man könnte wirklich meinen, das Tempo, das dieses gefräßige Monster namens EU derzeit vorlegt, hätte einen bestimmten Grund. Nämlich den, alles, was der neoliberalen Zielsetzung dient, noch schnell in unum-kehrbare Verträge zu meißeln, bevor sich der Zorn der Völker erhebt. Demokratie steht schon lange nicht mehr auf dem Spielplan, es geht nur noch darum, die totalitäre Festung zu bauen, solange die meisten – und meist unfreiwilligen – Mitspieler noch nicht begriffen haben, was wirklich auf dem Spiel steht.
Ach ja, Cameron denkt gerade wieder laut darüber nach, die Briten über einen möglichen EU-Austritt abstimmen zu lassen. Vielleicht hat er ja Recht. Mein Europa ist das jedenfalls auch nicht mehr.
@marty Ich kann dir nur zustimmen, es ist eine Horror-Vision!
marty
6. Dezember 2012 @ 20:58
Was für eine Horror-Vision! Und wie so oft versteckt sich hinter harmlos-technokratischen Phrasen („individual arrangements of a contractual nature“, „means for their implementation“) erhebliches totalitäres Potential …
Es tut mir leid, wenn ich jetzt gleich Godwin’s Gesetz zu bestätigen scheine („jede Online-Diskussion landet irgendwann bei Adolf H.“ − http://de.wikipedia.org/wiki/Godwins_Gesetz ). Ich möchte die EU − und auch die künftige EU 2.0 − in keiner Weise mit dem Dritten Reich gleichsetzen. Ich sehe nur gewisse MÖGLICHE Parallelen in der Form des „kalten Staatsstreichs“. Die Nazis haben niemals die Weimarer Reichsverfassung außer Kraft gesetzt − diese für die damalige Zeit äußerst progressive und humanistische Verfassung galt formell auch zwischen 1933 und 1945 fort (http://de.wikipedia.org/wiki/Weimarer_Verfassung#Fortgeltung_der_Verfassung_nach_1933 )! Droht unserem durchaus sozial-humanistischen Grundgesetz ein ähnliches Schicksal?
Die EU schickt sich jetzt an, den großen sozialdemokratischen Nachkriegskonsens nicht nur aufzukündigen, sondern de facto sogar zu verbannen („sozialdemokratisch“ ist hier natürlich nicht parteipolitisch gemeint − damals waren es meist Christdemokraten, die sozialdemokratische Politik machten).
Die Väter der EU − Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi (alles Christdemokraten!) − würden sich angesichts der Zementierung dieses neoliberalen Fieberwahns im Grab umdrehen …
Johannes
6. Dezember 2012 @ 17:48
Genau vor solchen einen Mist, den auch noch Merkel will, habe ich Angst. Die Angst vor einem übermächtigen Brüssel, dass immer nach mehr Macht und Geld schreit. Einem Brüssel, dass nichts mehr von uns Bürgern wissen will und sich in der eigenen Selbstherlichkeit sonnt und sich und seine Pläne als das Beste der Welt ansieht. Diesesn Eindruck hat man schon heute, deswegen bin ich jedes mal skeptisch, wenn jemand mehr Macht für Brüssel fordert! Hoffentlich scheitert diese Idee.