Noch ein „Defizitsünder“
In Deutschland hat man sich angewöhnt, Frankreich und Italien als „Defizitsünder“ und „Krisenländer“ zu bezeichnen, obwohl sie in den Euro-Rettungsschirm einzahlen und brav deutsche Produkte kaufen.
Doch was soll man nun zu Großbritannien sagen? Trotz eines BIP-Wachstums von ca. 3 Prozent meldet London ein Budgetdefizit von 5,3 Prozent – eines der höchsten Europas, mehr als Frankreich.
Ist Premier Cameron nun auch ein „Defizitsünder“? Oder gilt dieser Begriff nicht, weil er in Pfund abrechnet? Und was ist mit den Steuererhöhungen, die Cameron plant (u.a eine spezielle „Google Tax“)?
Wird das Großbritanniens „Wettbewerbsfähigkeit“ zerstören, wie es im Falle Frankreichs immer heißt? Bisher haben weder Brüssel noch Berlin irgend etwas an der britischen Politik auszusetzen… – Mehr hier
winston
6. Dezember 2014 @ 16:12
@ Tim
Strassen zu erneuern und tausenden Menschen Arbeit zu geben ist jedenfalls Makroökonomisch wesentlich sinnvoller als für verschiedene Milliarden im vier Stelligen Bereich Banken zu Retten wegen ihren Fehlallokationen, z. B in Nord Amerika oder Südeuropa.
Nicht der Markt ist das Problem, sondern die Marktakteure.
Und gratuliere zur Ablehnung der Goldinitiative, ein sehr weiser entscheid.
Tim
8. Dezember 2014 @ 09:42
@ winston
Ja, die Schwerpunkte unserer Wertegemeinschaft EU sind schon beeindruckend: Landwirtschaft und Banken.
Künftige Historiker werden daran zu knabbern haben, wie es uns gelungen ist, diese einzigartige Menschheitsprojekt so in den Sand zu setzen.
winston
6. Dezember 2014 @ 07:48
Die Schulden- und Defizit Obergrenze von 60% bzw.3% gilt nur für die EZ, ein Schwachsinn sondergleichen, das ganze noch mit einer fixierten Währung, der absolute Overkill. Konjunkturverläufe verlaufen nie gradlinig deshalb sollte man die Wirtschaftspolitik dem Konjunkturverlauf anpassen, das wurde eigentlich weltweit begriffen aber nicht in der EZ.
GB hat seine eigene Währung und Zentralbank und kann Geldpolitisch machen was sie für richtig hält. So wurde der Pfund 2008/9 als die Subprimekrise wütete 25% abgewertet obendrauf kaufte die Englische Zentralbank eigene Anleihen für 250 mrd. Pfund.
Das Defizit wurde massiv ausgeweitet.
http://www.tradingeconomics.com/united-kingdom/government-budget
ebenso die Staatsausgaben.
http://www.tradingeconomics.com/united-kingdom/government-spending-to-gdp
Beides fährt man jetzt langsam wieder zurück. Völlig normale Prozedur, wurde auch weltweit angewendet ausser die Austeritätstaliban der EZ gehen da ihren eigenen Weg. Restriktive Geldpolitik obendrauf will man noch die Schulden reduzieren mitten in einer Deflation, glaube nicht mal Brünning und Hoover gingen so weit, das ist nicht anderes als Ökonomischer Selbsmord, selbstverständlich löst man die Krise damit nicht, sondern verschärft sie bis alles in die Luft fliegt und einen riesigen Trümmerhaufen hinterlässt.
@ Tim
GB lebt nicht nur vom Finanzsektor, GB hat 65 Mio. Einwohner und die müssen beschäftigt werden, der Finanzsektor schafft keine Arbeitsplätze. GB hat ein gewaltiges Handelsdefizit und liegt deutlich über der 3% Defizitobergrenze, trotzdem wächst es mehr als Deutschland mit einem Handels Überschuss von 7%, zumindest die letzten 6-7 Quartale.
GDP: UK
http://www.tradingeconomics.com/united-kingdom/gdp-growth
GDP: DE
http://www.tradingeconomics.com/germany/gdp-growth
Jetzt will die Englische Regierung für 19 mrd. € noch ihr Strassennetz komplett renovieren. Das gibt tausenden von Menschen Arbeit, diese Menschen kriegen ende Monat einen Lohn, gehen damit ins Pup oder leisten sich mal ein Restaurant Besuch, gehen zum Einzelhändler in der nähe, usw usf, mit einem Wort, Sie konsumieren und zahlen Steuern. Der Einzelhändler, der Pup Besitzer und Restaurant Besitzer erhöhen ihre Umsätze und konsumieren und zahlen ebenfalls Steuern, zusätzlich noch Umsatzsteuern.
http://www.motor-talk.de/news/15-milliarden-pfund-investitionen-t5133314.html
Auch in den USA geht man einen völlig anderen Weg als in Europa. Hab schon vor Monaten gesagt das FED Präsidentin Yellen (Die übrigens Keynesianerin ist) ihr Schwerpunkt auf den Arbeitsmarkt setzen wird, das heisst Reduzierung der Prekär Beschäftigten und Löhne, hier ist man erst am Anfang, da gibt’s noch viel zu tun.
wage gains picked up, a sign of economic strength
http://finance.yahoo.com/news/sturdy-u-payroll-gains-eyed-060234465.html
USA und Europa liefen wirtschaftlich die letzten 50-60 Jahren praktisch parallel, das ist seit 2009 nicht mehr der Fall, das könnte zu erheblichen Dissonanzen führen.
Was macht die EZ, sie setzt auf Merkantilismus und zehrt vom Aufschwung anderer und lässt sein Binnenmarkt völlig absaufen, eine sehr stupide Wirtschaftspolitik.
Tim
6. Dezember 2014 @ 14:34
@ winston
Straßen sollte man nicht bauen, um „Tausenden Menschen Arbeit zu geben“, sondern um die Infrastruktur zu verbessern.
Sozialistische Wirtschaftsplanung führt immer auch zu sozialistischem Wohlstand.
Tim
5. Dezember 2014 @ 16:29
Wer behauptet, daß das Budgetdefizit die französische Wettbewerbsfähigkeit schädigt, liegt natürlich falsch. Der Effekt ist eher indirekt, wenn nämlich die französische Regierung nicht allmählich anfängt, als Reaktion auf das Defizit wirksame Reformen anzustoßen.
Die Schwierigkeiten Großbritanniens sind ganz anders geartet als die in Frankreich oder Deutschland. Industrieinvestitionen haben z.B. eine viel geringere Bedeutung.
ebo
5. Dezember 2014 @ 17:39
Bemerkenswert ist doch, dass die Märkte selbst dann nicht nervös werden, wenn das Budgetdefizit über 5 Prozent liegt. Oder spekuliert jemand gegen das Pfund?
Michael
6. Dezember 2014 @ 09:43
Nein: GB kann jederzeit beliebig viele Pfund aus dem Nichts generieren. Kein Euro-Mitgliedsland kann das. Das ist die Folge der Währungsunion, die dazu geführt hat, dass die Euro-Länder ihre Schulden nicht mehr in einer eigenen Währung begeben, die sie selbst generieren können.
Die britische Wirtschaft besteht ohnehin zu einem großen Teil aus dem Finanzplatz London. (Jedenfalls soweit Anleger betroffen sind). Für Anleger, die Kapital in britischen Werten angelegt haben, ist es im Zweifel wichtiger, wie entschieden sich GB gegen EU-Regelungen für den Finanzsektor wehrt.
Johannes
5. Dezember 2014 @ 13:17
Diese beiden Punkte können nicht ernst gemeint sein: „obwohl sie in den Euro-Rettungsschirm einzahlen und brav deutsche Produkte kaufen“
Italien wurde bereits von der EZB gerettet und bekam Schrottanleihen auf Kosten von uns dt. Steuerzahlern abgekauft, vor 1 oder 2 Jahren ging es los. Italien hat gar kein Geld mehr und Frankreich wird durch den niedrigen Eurokurs gerettet, auf Kosten von uns dt. Bürgern.
Und wir Deutschen kaufen KEINE Produkte aus Italien und Frankreich? Nach diesen Maßstäben müssten uns beide Länder unendlich dankbar sein, sind sie aber nicht, warum soll ich dann dankbar sein, weil ich Deutscher bin und dadurch automatisch böse???
Das England jetzt Teil des Euros ist, ist mir neu.
ebo
5. Dezember 2014 @ 14:40
Lieber Johannes, wenn Frankreich und Italien den Sparkurs verschärfen, wird auch die Nachfrage nach deutschen Waren aus diesen Ländern einbrechen. Zudem solltest auch Du zur Kenntnis nehmen, dass Paris und Rom in den ESM einzahlen – zusammen sogar mehr als Berlin. London hat keinen Cent eingezahlt, ist nicht im Euro, kündigt jede Solidarität, steckt tief im Defizit – und wird von Kanzlerin Merkel dennoch hofiert. Alles klar?
Michael
6. Dezember 2014 @ 09:21
Warum sollte ein Nicht-Euro-Staat sich an den „Euro-Rettungsaktionen“ beteiligen? Bei allen EU-Angelegenheiten, die nicht mit dem euro verbunden sind, ist GB aber dennoch beteiligt und darum natürlich ein potentiell wertvoller Verbündeter. (Mit der Einschränkung, dass Cameron so trampelig auftritt, dass er sich meist um die Wirkung seiner Forderungen bringt).
Zum Thema Solidarität: was ist damit gemeint? Immerhin hat jedes einzelne EU-Mitgliedsland sich (durch Ratifikation der Verträge) darauf festgelegt, dass im Zweifelsfall eher jeder für sich allein Pleite geht, als dass jemand für die Schulden eines anderen bürgt oder eintritt.
ebo
6. Dezember 2014 @ 10:38
@Michael
Was Solidarität auf britisch bedeutet, haben wir gerade in der Budgetdebatte gesehen. Cameron fordert „seine“ 2,1 Mrd. Euro Nachzahlung zurück; Merkel stundet ihm sofort die eigentlich fälligen Zahlungen… Wann wacht Hollande endlich auf und macht es Cameron nach?
Tim
6. Dezember 2014 @ 14:36
@ Michael
Solidarität auf Europäisch bedeutet, daß die wohlhabenderen Länder für die Versäumnisse der ärmeren Länder zahlen sollen. Vertragstreue zählt in Euroland ohnehin nichts mehr.
Tim
6. Dezember 2014 @ 14:39
@ ebo
Was genau meinst Du mit „Sparkurs in Frankreich“?
Die seit Beginn der Krise um rund 10 Prozent gestiegenen Staatsausgaben?
ebo
6. Dezember 2014 @ 15:31
Frankreich wird seine Ausgaben um 50 Mrd. kürzen, das ist der Sparkurs. Dazu sollen nach dem Willen Berlins und Brüssels noch so genannte Strukturreformen kommen, also Sozialabbau.
Tim
8. Dezember 2014 @ 09:34
@ ebo
Aber sicher wird er das. Was Hollande verspricht, setzt er immer um. Wie schön, daß wenigstens Du das glaubst.
Erinnere Dich z.B. an 2012, als er einen „brutalen Sparkurs“ ankündigte. Seitdem haben sich die Regierungsausgaben immerhin nur um 4-5 % erhöht. 🙂
Und von wirklich sinnvollen Reformvorschlägen aus Frankreich habe ich auch noch nichts gehört. Arbeitsmarktreformen? Null. Wegfall der mannigfaltigen Privilegien und Vorteile für staatsnahe Unternehmen? Keinesfalls. Klares Bekenntnis zum Wettbewerbsprinzip? Natürlich nicht.
Nein, so wird das nichts. Ich glaube, wir müssen Frankreich allmählich verloren geben. Über Jahrzehnte Reformen verschleppen und selbst in der Krise keinen Mut haben, das ist der beste Nährboden für die Radikalen.
ebo
8. Dezember 2014 @ 09:37
Hollande hat noch nie einen brutalen Sparurs angekündigt. Als er an die Macht kam, hat er eine Neuverhandlung des Merkel’schen Fiskalpakts und einen Wachstumspakt für Europa gefordert. Leider konnte er sich nicht durchsetzen. Zuletzt wuchs die deutsche Wirtschaft langsamer als die französische.
Tim
8. Dezember 2014 @ 09:59
@ ebo
Aber natürlich hat er das, siehe z.B. hier:
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frankreich-hollande-kuendigt-drastische-steuererhoehungen-an-11884821.html
Das war doch diese lustige Zeit, als er sich als Macher darstellte, der das härteste Reformprogramm in Frankreich seit den 90er Jahren durchdrückt.
Natürlich war das ein vollkommen unsinniges „Sparprogramm“, weil es ja überwiegend aus Steuererhöhungen bestand, und natürlich ist auch nichts draus geworden.
Die Franzosen haben sich nun mal ganz bewußt einen Präsidenten gewählt, der als guter Linker die Realität hervorragend verdrängen kann.
ebo
8. Dezember 2014 @ 10:02
@Tim
Den Unterschied zwischen Steuererhöhungen und Einsparungen muss ich Dir wohl nicht erklären, oder? Kleiner Tipp: Lies besser „Le Monde“ oder den „Figaro“ als die FAZ…
Tim
8. Dezember 2014 @ 10:15
@ ebo
Mir mußt Du das sicher nicht erklären, aber Hollande. Er hat schließlich diesen Quatsch als Sparprogramm verkauft.
Würde mich übrigens freuen, wenn Du immer so kritisch wärst wie in diesem unseren Mini-Thread.