Kein Weg, kein Ziel
Was passiert, wenn die Briten aus der EU austreten? Zehn Tage vor dem Brexit-Referendum wollen unsere EU-Politiker dies immer noch nicht verraten. Statt einen Weg nach vorn zu weisen, begraben sie ihre Träume.
[dropcap]E[/dropcap]s könnte alles so einfach sein. Wenn unsere EU-Politiker noch eine gemeinsame Vision hätten, könnten sie uns und den Briten jetzt endlich mal sagen, wie sie sich die Zukunft der EU vorstellen.
Die Briten wüßten dann genau, woran sie wären – und worauf sie sich im Fall eines Brexit einstellen müssten. Das wäre nur fair, für das “Remain”-Camp genauso wie für die “Leave”-Kampagne.
Und wir Kontinental-Europäer müssten nicht mehr wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Wir wären nicht gezwungen, ängstlich auf den Ausgang einer Wahl zu warten, die wir nicht beeinflussen können.
Doch Juncker, Tusk, Merkel & Co. wollen uns nicht verraten, wohin die Reise geht. Vermutlich wissen sie es selber nicht. Stattdessen sagen sie nur, wohin die Reise nicht mehr gehen soll.
Keine Erweiterung, keine Vertiefung, keine “immer engere Union” – darauf laufen die letzten Äußerungen hinaus. Vor allem Finanzminister Schäuble präsentiert sich wieder als Meister der Negation.
Nach der Abstimmung in UK könne man “nicht einfach so wie bisher weitermachen”, sagte er dem “Spiegel”. Als Antwort auf den (zunehmend wahrscheinlichen) Brexit mehr Integration zu fordern, wäre “plump”.
Das ist eine radikale Wende. Schließlich war es ja Schäuble, der das Konzept von “Kerneuropa” erfunden hat. Ausgerechnet jetzt, wo wir wirklich einen aktiven Kern gebrauchen könnten, rückt er davon ab.
Damit kapituliert Schäuble, der angeblich so überzeugte Europäer, vor dem Zeitgeist. Genau wie Eurogruppenchef Dijsselbloem, der plötzlich gegen neue Erweiterungs-Runden ist (die Ukraine lässt grüßen).
Doch wie sie sich eine EU ohne UK und ohne mehr Integration vorstellen, das verraten unsere Vordenker nicht. Offenbar hat sich der europäische Traum ausgeträumt, das “Weiter so” ist das Ziel…
Andres Müller
15. Juni 2016 @ 12:17
“Nach der Abstimmung in UK könne man „nicht einfach so wie bisher weitermachen“, sagte er dem „Spiegel“.”
Theoretisch schon, denn bei der “Volksabstimmung” handelt es sich nur um eine Art Empfehlung an die regierenden Politiker. Letztere können die Abstimmung ebenso versanden lassen wie das griechische Parlament die Volksabstimmung über den Vertrag mit den Gläubigern kurz darauf von Tsipras selbst (man erinnere sich) bachab geschickt hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit ist hier zu erkennen, die Volksabstimmung könnte dazu dienen um Druck auszuüben, aber vermutlich dient sie nicht dazu um tatsächlich auszutreten. Für mich sind solche Abstimmungen nicht wirklich gute Beispiele von Demokratie. Die Panik der Märkte über den angeblich drohenden “Brexit” ist aus diesem Blickwinkel eher übertrieben.
ebo
21. Juni 2016 @ 10:49
@Andres Müller Schäuble will selbstverständlich “einfach so weitermachen”. Sein Ziel ist, die deutschen Regeln für das deutsche Europa immun gegen alle Entscheidungen zu machen, und seien es Volksabstimmungen wie in UK. Das letzte Hindernis ist noch die EU-Kommission, aber auch diese Festung wird noch geschliffen…
OXIgen
14. Juni 2016 @ 13:40
Kein Weg, kein Ziel? Von wegen! Alle politischen Akteure in diesem europäischen Schmierentheater haben ihre Ziele – halt nur jeder ein anderes.
Fangen wir mit Angela an. Kaiserin von Europa ist sie schon, amerikanische Präsidentin kann sie leider nicht werden, also will sie wenigstens auch noch Zarin von Russland werden und dort mal so richtig durchregieren. Ihr geradezu pathologischer Hass auf die Russen beflügelt ihre Fantasie dermaßen, dass sie sich schon mit ihren Freundinnen Hillary und Julia beim Tee im Kreml sieht, während Wladimir als Lakai kleine Häppchen rumreicht. Für irgendwas muss ihre Tour de Force durch Europa ja gut gewesen sein, oder?
Schäuble, ihr treuer Rolli, bekommt überall in ihren Dependancen barrierefreien Zugang zu den Staatsschatullen und wird eurasischer Superfinanzminister mit alleiniger Zeichnungsberechtigung noch hundert Jahre über seinen Tod hinaus, oder wenigstens so lange bis die Griechen zehn Trillionen Euro Schulden bezahlt haben. Das ist sein Traumziel.
Junckers Ziel ist dagegen recht bescheiden. Er will auf seine alten Tage einfach nur noch Spaß und hochprozentige Gespräche haben – und jeden abbusseln, der gerade vorbeikommt. Da macht er keinen Unterschied, da ist er Demokrat. Hauptsache Schmatz!
Schulz will Bundeskanzler von Europa werden, wenn Angie endlich in Moskau das Ruder übernommen hat. Nicht mehr und nicht weniger. Ist doch einfach.
Cameron, die arrogante Hamsterbacke, will seine Untertanen endgültig in kapitaltaugliche Kategorien aufteilen. Nützlich sind Banker und Sklaven, alles andere muss runter von der Insel. Bezahlen muss das die EU, wie immer. Sein Traum ist die City of England ohne störende Bevölkerung.
Tusk? Wer ist eigentlich Tusk?
Satire off.
Lina
13. Juni 2016 @ 21:02
“Westliche Zivilisation…”
http://www.keeptalkinggreece.com/2016/06/04/historic-tombs-of-venizelos-transferred-to-privatization-fund-acropolis-next/
Das IST Barbarei at its best.
Lina
13. Juni 2016 @ 20:53
Wie könnte man den Ausdruck “Zerfall der westlichen Zivilisation” interpretieren?
Krieg?
Also, kein Finanzkrieg, wie er im Moment stattfindet, sondern Krieg mit Bomben und so?
Lina
13. Juni 2016 @ 20:48
Schäuble? Überzeugter Europäer?! Phaaaa!
Provinzieller und erwiesenermaßen korrupter Buchhalter mit Allmachtsphantasien.
Das gleiche gilt für dessen Handpuppe Dijsselbloem, der einen Bachelor in Agrikultur hat und sich auf seiner Homepage einen Master zusammengelogen hatte, bis es aufflog.
Und Merkel? Europäerin? Die Frau, die sagte dass sie froh sei keine Südländerin zu sein, “weil sie sonst ständig Siesta machen müsste”?
Die Frau, die ein Porträt von Katharina auf ihrem Schreibtisch stehen hat und mit dem Sultan vom Bosporus gemeinsame Sache macht? Die Frau die Geburtstagsfeiern für gewisse Bankvorstände ausrichtet und bestens mit Frau Mohn und Frau Springer befreundet ist? Die Frau die dabei ist Thacher zu überholen?
Und die unzähligen Minister und Kommissare, die durch die EU Drehtür lukrativste Posten in Großkonzernen erhalten…
Welche Visionen können solche Leute für Europa schon haben?
Peter Nemschak
13. Juni 2016 @ 16:05
@S.B. Reflektieren war seit eh und je ein Minderheitenprogramm. Daran hat sich nichts geändert, ebenso dass Wenige über das Schicksal der Vielen bestimmen.
S.B.
13. Juni 2016 @ 17:25
Da muss ich Ihnen nun wieder Recht geben.
Peter Nemschak
13. Juni 2016 @ 12:42
@ebo siehe http://www.nzz.ch/meinung/debatte/europa–eine-frage-des-selbstbewusstseins-1.18507638 “Europa ist so europäisch wie unter den gegebenen Umständen möglich”. Das mit den Anweisungen aus Washington ist blanker Unsinn. Allerdings sind die USA für die gesellschaftliche und politische Entwicklung Europas ein leading indicator. Die nächstem Monate werden zeigen wohin sich die USA entwickeln werden. Ähnliches wird uns mit Variationen auch in Europa bevorstehen. Derzeit sind die europäischen Bürger unsicher, was sie wollen sollen. Visionen entstehen zumeist im Gefolge großer Katastrophen. Noch ist der Druck für einen Paradigmenwechsel nicht groß genug.
S.B.
13. Juni 2016 @ 13:56
@Peter Nemschak: “Das mit den Anweisungen aus Washington ist blanker Unsinn. Allerdings sind die USA für die gesellschaftliche und politische Entwicklung Europas ein leading indicator.” – “Leading indicator” ist wohl die weiche Umschreibung für “Anweisungen”… 😉
“Derzeit sind die europäischen Bürger unsicher, was sie wollen sollen.” – Wo nehmen Sie diese These denn her? Sie sollten nicht von sich auf alle anderen schließen.
“Visionen entstehen zumeist im Gefolge großer Katastrophen.” – Wenn ich mich recht erinnere, war es in der nicht allzu fernen Vergangenheit oft umgekehrt, nämlich, dass Visionen zu großen Katastrophen geführt haben. Die letzte Vision dieser Art müssen wir leider gerade live miterleben: die (angestrebten) Vereinigten Staaten von Europa. Aber wir wollen mal nicht so genau sein.
Peter Nemschak
13. Juni 2016 @ 16:03
Es geht nicht um Anweisungen aus Washington sondern um die zunehmende Amerikanisierung der Welt (McDonaldisierung, Digitalisierung und Individualisierung über soziale Netzwerke, generell zunehmende Kommerzialisierung immer weiterer Lebensbereiche), kurz um den von den USA ausgehenden gesellschaftlichen Wandel, der auch China und den Rest der Welt mittlerweile erfasst hat. Die europäische Vision ist als Folge des Zweiten Weltkriegs und seiner Schrecken entstanden. Die heute von den Euroskeptikern abgelehnten Vereinigten Staaten von Europa wären eine wirksame Antwort, Renationalisierung ist es nicht.
Skyjumper
13. Juni 2016 @ 17:03
Was den von den USA ausgehenden gesellschaftlichen und politischen Wandel anbelangt stimme ich zu. Auch Ihre zuvor aufgestellt These hinsichtlich der noch unsicheren europäischen Bürger halte ich für stimmig und (zumindest wenn ich mir DE ansehe) zutreffend.
Folgenden Satz halte ich jedoch für eine nicht zutreffende Behauptung:
“Die europäische Vision ist als Folge des Zweiten Weltkriegs und seiner Schrecken entstanden.”
Ja, es gab eine europäische Vision die als Folge des 2. Weltkriegs entstanden war. Doch hatte diese Vision nichts, aber auch gar nichts, mit der heutigen EU zu tun. Wenn man sich weit aus dem Fenster legen will kann man sagen dass die heutige europäische Vision eine Folge (besser sollte man von Auflage sprechen) der deutschen Wiedervereinigung ist. Und selbst das sehe ich nicht uneingeschränkt so.
btw: Ich nehme an Sie meinten EU-Skeptiker, nicht Euroskeptiker? Das sind ja noch 2 deutlich getrennte Paar Schuhe.
Und auch diesen Satz halte ich für eine These die mich nicht überzeugt:
“Die heute von den Euroskeptikern abgelehnten Vereinigten Staaten von Europa wären eine wirksame Antwort, Renationalisierung ist es nicht.”
Aber an dieser Stelle landen wir dann wieder bei der von Ihnen als erforderlich erachteten, und von mir abgelehnten, Machtposition der EU in der globalisierten Welt.
Skyjumper
13. Juni 2016 @ 15:11
Zwar liest sich der Gastkommentar von Mark Lilla recht flüssig, und, so lange man nicht anfängt es zu hinterfragen, auch logisch.
Aber letztlich kann die EU das als fehlend monierte Selbstbewußtsein gar nicht entwickeln da es dafür bereits an dem “Selbst” fehlt. Die EU ist eben ein Sammelsurium vieler verschiedener “Selbst”. Der von Lilla hier (meiner Meinung nach) bewußt gewählte Vergleich mit dem Habsburger Reich hinkt. Zwar ist es eine Gemeinsamkeit der EU und der Kuk Monarchie aus einen Staatsgebiet mit vielen Ethnien zu bestehen, aber es gibt auch einen eklatanten Unterschied:
Die Habsburger beherrschten und unterdrückten die unterschiedlichen Ethnien zur Not mit der Armee und hielten sie auf die Weise bei der Stange. Von dieser Möglichkeit ist die EU zum Glück noch ein Stückchen entfernt.
Und wie Ungarn oder Serbien zeigten reichte selbst die zentrale Militärmacht manchmal nicht. Im Gegenteil: Am Ende zerbrach am serbischen Selbstbestimmungswunsch(Attentat von Sarajewo) nicht nur das Habsburger Reich sondern eine europäische Epoche versank im Schlamm der Schlachtfelder des 1. Weltkriegs.
S.B.
13. Juni 2016 @ 15:58
Das Hinterfragen, also das Reflektieren von Inhalten, ist eine hohe Kunst, die selbstständiges Denken voraussetzt. Dieses ist bei der großen Masse der Menschen entweder von vornherein nicht vorhanden oder aber abhanden gekommen. Da (eigentliche meinungsneutrale) Nachricht und Kommentar in den Mainstream-Medien ohnehin nicht mehr auseinanderzuhalten ist (meinungsneutrale Nachrichten gibt es fast nicht mehr), ist der Gehirnwäsche auch nur mit viel Energie etwas entgegenzusetzen. Und so wird die von den MSM transportierte Meinung von vielen Menschen ohne nachzudenken einfach so übernommen. Liest sich ja alles so “flüssig”; wird schon stimmen…
S.B.
13. Juni 2016 @ 12:11
“Doch Juncker, Tusk, Merkel & Co. wollen uns nicht verraten, wohin die Reise geht.” – Jedenfalls wollen sie uns das nicht ausdrücklich verraten, denn diese Reise ist nicht zum Vorteil der EU-Bürger.
“Vermutlich wissen sie es selber nicht.” – Im Groben werden Sie es schon wissen. Im Einzelnen bekommen sie ihre Anweisungen aber situationsbezogen aus Washington.
“Stattdessen sagen sie nur, wohin die Reise nicht mehr gehen soll.” – Politiker sagen stets das Gegenteil von dem, was dann tatsächlich gemacht wird. Wenn sie also sagen, was nicht mehr gehen soll, wird genau das gemacht werden. So gesehen verraten sie uns auch, wohin die Reise gehen soll.
Skyjumper
13. Juni 2016 @ 12:01
Ich sehe die Schäuble-Aussagen eher als logische Ergänzung der bekannten Juncker-Äußerung:
“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”
In diesem Fall scheint man seitens der EU (wozu ich auch Schäuble rechne) zu dem Ergebnis gekommen zu sein dass das “Geschrei” zu laut war. Also stellt man es eine Zeitlang zurück und probiert es erneut wenn Gras über die Sache gewachsen ist.
An eine radikale (nachhaltige) Wende glaube ich noch nicht. Und unter der Prämisse würde es auch Sinn ergeben dass es kein alternatives Reiseziel gibt, denn das Ziel der Reise wäre unverändert. Man sollte wachsam bleiben.
kaush
13. Juni 2016 @ 10:30
Es zeigt einfach die Unfähigkeit der Transatlantiker, eine europäische Alternative zum amerikanischen Marktradikalismus zu entwickeln.
Fundamentalisten können eben nicht anders.
Claus
13. Juni 2016 @ 08:41
Statt einem „Erweiterungskommissar“ wie Günter Verheugen (FDP), dem wir mit der „EU-Osterweiterung“ einen guten Teil der Probleme verdanken, die besonders von den Briten als störend empfunden werden, würde ich gern die Funktion eines „Reduktionskommissars“ übernehmen. Das würde ich sogar ganz ohne die Brüssel-übliche Riesen-Apanage machen, eine kleine Aufwandsvergütung würde reichen. Allerdings bezweifele ich, dass mein Wirken auf der ideologischen Linie von Merkel, Juncker, Schulz, Tusk & Co. läge. Aber die EU würde bis zur nächsten “EU-Wahl” (vorfristige Auflösungsvereinbarungen möglich!) auf das zurückgestutzt sein, als was sie ursprünglich gedacht war. Und in Brüssel und Straßburg gäbe es jede Menge freier Tagungs, Büro- und Wohnflächen.
ebo
13. Juni 2016 @ 09:31
@Claus Nun ja, so einfach ist das nicht. Bis vor kurzem waren die Briten die größten Fans der Erweiterung, sie wollten auch immer die Türkei mit ins Boot holen. Zudem haben sie als erste Hurra geschrien, als die Osteuropäer kamen – natürlich als billige Arbeitskräfte. Nun wollen sie davon plötzlich nichts mehr wissen. Irgendwie erinnert mich diese Geschichte an ein großes Land in der Mitte Europas…
Joe Thorpe
13. Juni 2016 @ 10:55
The government may have supported the expansion mantra but the voice of the people were sidelined & ignored
Claus
13. Juni 2016 @ 21:04
@ebo: Nun aber mal „Butter bei die Fische“: Ich verbringe einen guten Teil meiner Zeit in England und habe unter meine bodenständigen Freunden dort niemand getroffen, der die EU-Osterweiterung begrüßte. Die Dimension lässt sich recht gut daran erkennen, dass auf den Kanalfähren inzwischen praktisch kein englisch oder französisch mehr zu hören ist, und die Fahrzeuge überwiegend mit osteuropäischen Kennzeichen unterwegs sind. Da frage ich mich schon, wer genau aus dem britischen Volk die Erweiterung wirklich gewollt haben soll, inklusiv Beitritt der Türkei.
Arbeitskräfte willkommen – aber zum erheblichen Teil für die Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit. Was ja in Deutschland nicht anders ist.