Neue Daumenschrauben für Athen
Griechenland könnte schon Anfang 2013 gezwungen sein, neue Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen zu beschließen. Dies geht nach Angaben von „ekathimerini“ aus einem Entwurf der internationalen Troika hervor. Die Troika-Vertreter sollen künftig monatlich nach Athen reisen, um die Regierung zu überwachen und die Einhaltung der Spar- und Reformdiktate zu kontrollieren.
Gleichzeitig fordern die Gläubiger, dass beim geplanten Rückkauf von Staatsanleihen mindestens 40 Mrd. Euro zusammenkommen. Das wären zwei Drittel der noch in Privathänden befindlichen Anleihen, meldet Reuters. Was passiert, wenn diese Summe nicht zusammenkommt, meldet die Agentur nicht. Die genauen Konditionen sollen erst am Montag bekannt gegeben werden.
Damit bestätigt sich meine Einschätzung, dass mit der „Rettung“ Griechenlands neue Daumenschrauben verbunden sind – und dass der Schwarze Peter für ein mögliches Scheitern wieder einmal nach Athen verschoben wurde. Mehr dazu hier.
marty
3. Dezember 2012 @ 15:39
@ebo: Stimmt, der griechisch-türkische Konflikt ist eine riesige Tragödie − und vor allem für Griechenland ein Milliardengrab. Denn Militärgüter sind nicht nur potentiell todbringend − sie sind auch ziemlich „totes“ (unproduktives) Kapital. Außerdem bringt der militärisch-industrielle Komplex fast immer furchtbare Verfilzungen mit sich. Ausgerechnet US-Präsident Eisenhower (!) hat schon 1961 eindringlich davor gewarnt: „Der wirtschaftliche, politische, sogar der geistige Einfluss ist in jeder Stadt, in jedem Staatsparlament, in jeder Bundesbehörde zu spüren“ (http://www.zeit.de/2008/37/Milit-r_-Industriell_-Komplex ).
Für Deutschland ist das Ganze natürlich ein lohnendes Geschäft − denn ein Großteil der völlig überdimensionierten griechischen Rüstungsaufträge fließt nach Bayern, Ba-Wü und NRW. (Daher ist die Empörung mancher Politiker über griechische Rüstungsausgaben nicht ganz glaubwürdig). Dennoch ist es absolut surreal, dass 2 verbündete NATO-„Partner“ sich gegenseitig als Bedrohung verstehen − und der Rest ihrer „Freunde“ tatenlos zuschaut.
Um die Verbitterung auf beiden Seiten der Ägäis zu verstehen, darf man − neben dem Zypern-Konflikt − auch den sog. „griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch“ nicht vergessen. Er führte in den 20er Jahren zu schrecklichen Massakern und Vertreibungen − und wirkt bis heute traumatisch nach (http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Lausanne#Konvention_.C3.BCber_den_Bev.C3.B6lkerungsaustausch_zwischen_Griechenland_und_der_T.C3.BCrkei ).
Man möchte den Griechen (abseits ökologischer Erwägungen) fast wünschen, dass der Traum vom Ägäis-Öl eines Tages wahr wird − dann war der ewige Konflikt um die Grenze in der Ägäis wenigstens nicht völlig umsonst (http://en.wikipedia.org/wiki/Aegean_dispute ).
marty
3. Dezember 2012 @ 03:24
@melina: „Griechenland ist nämlich im Grunde gar kein so armes Land …“ −
Das würde ich so nicht unterschreiben. Griechenland hat − gemessen an seiner Bevölkerung (10 Mio.) − eine sehr schwache ökonomische Basis. Das Land musste daher immer wieder große Bevölkerungsteile abgeben. Aus diesem Grund ist die drittgrößte griechische Stadt nicht Patras (wie es offiziell immer heißt: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/204353/umfrage/groesste-staedte-in-griechenland/ ), sondern Melbourne (mit circa 300.000 Griechen, Tendenz steigend − http://www.heraldsun.com.au/news/victoria/melbourne-in-a-greek-rush-as-new-wave-of-migrants-arrive/story-fn7x8me2-1226274790235 ). −
Das Grundproblem: Griechenland hat zahlreiche wirtschaftsgeographische Nachteile. Stark zerklüftet und zerrissen, viele Halbinseln & Inseln, weite & ineffiziente Transportwege, keine nennenswerten schiffbaren Flüsse. Außerdem weit weg von der „Blauen Banane“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Blaue_Banane ). − Und dann hat sich dieses wirtschaftlich schwache Land auch noch an eine viel zu teure Währung gekettet, in der es keine Überlebenschance hat. Denn Griechenland kann nur als relativ billiges Land (d.h. NICHT Billiglohnland!) funktionieren.
Aber auch außerhalb des Euro hätte Hellas riesige Probleme − 3 seiner wichtigsten ökonomischen Säulen sind stark gefährdet: Die Landwirtschaft (gefangen in einer Hochpreis-Währung − kaum Effizienz-Potentiale). Die Reedereien (zunehmend bedroht von asiatischer Konkurrenz − zumal wenn die neuen XXL-Containerschiffe kommen, http://www.schiffundtechnik.com/lexikon/18000-teu−-die-groeten-frachtschiffe-der-welt.html ). Und nicht zuletzt der Tourismus (ebenfalls gefangen in einer Hochpreis-Währung − kaum Effizienz-Potentiale).
Ein möglichst schneller Euro-Austritt (mit Abfederung des nachfolgenden „Erdbebens“) wäre der erste, aber keineswegs letzte Schritt zur ökonomischen Rettung Griechenlands (und ganz Südeuropas).
ebo
3. Dezember 2012 @ 10:08
@marty Ein zentrales Problem in Griechenland ist, dass es viel zu lange mit der Türkei gerangelt und hochgerüstet hat. Die Nato und die EU haben zugeschaut und nichts getan, um den Konflikt zu entspannen. Dies führte dazu, dass viel zu viel Geld in die Verteidigung floss, Korruption und Vetternwirtschaft blühten. Wenn ich es richtig sehe, hat sich daran bis heute nicht viel geändert, oder?
marty
1. Dezember 2012 @ 02:54
„Daumenschrauben“ ist genau die richtige Metapher für das Vorgehen der Troika.
Doch was ist der Grund für diesen Fiskalsadismus? Will man ein Exempel statuieren? Will man testen, wann ein Land den „breaking point“ erreicht? Aber wozu? Um auch die anderen EU-Länder einzuschüchtern? Ist der Neoliberalismus denn noch nicht genügend etabliert? − Besonders abstoßend an Schäubles Gnadenlosigkeit: Deutschland selbst hat in ähnlichen Situationen viel mehr Generosität erfahren.
So kam 1924 ein kluger Amerikaner auf die überaus brillante Idee, Deutschlands Reparationszahlungen an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Weimarer Republik anzupassen. Dafür gab’s sogar den Friedensnobelpreis! (http://de.wikipedia.org/wiki/Dawes-Plan ). Ob Schäuble den auch mal erhält?
Und 1953 hatten gleich 65 Staaten den genialen Einfall, Deutschland nicht noch weiter zu zerstören, sondern der jungen BRD einen Großteil ihrer Altschulden zu erlassen bzw. zu stunden − darunter auch unser damaliger Gläubiger Griechenland! (vgl. „Wie Griechenland bei der Rettung Deutschlands half“: http://www.fr-online.de/schuldenkrise/schuldenerlass-wie-griechenland-bei-der-rettung-deutschlands-half,1471908,11569276.html ).
Vielleicht sind Schäuble diese alten Erinnerungen unangenehm, vielleicht hat er auch nur zu viel Vergil gelesen („Ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie − wie 1953 − Geschenke bringen!“, http://de.wikipedia.org/wiki/Danaergeschenk )?
Vielleicht ist Schäuble einfach nur geprägt von seiner langjährigen Tätigkeit als Finanzbeamter & Steuereintreiber?
Es fällt jedenfalls nicht ganz leicht, einen rationalen Grund für die Daumenschrauben-Masche zu erkennen …
melina
30. November 2012 @ 23:52
@ebo
Irgendwann am Rande des Freudentaumels über die Freigabe der Notkredite hat Stournaras zugegeben, dass da noch was im Busch ist, was er aber vorerst nicht sagen kann. Fragen dazu wimmelte er ab, man müsse erst noch dies oder jenes abwarten. Wenn er nächste Woche die Karten auf den Tisch legen muss – und etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig -, dann wird sich schnell Ernüchterung breit machen. Die Vertreter der griechischen Banken, die Bonds halten, haben ihm schon vorgestern die rote Karte gezeigt. Es ist völlig rätselhaft, wie dieses buy back, auch noch in dieser Höhe, funktionieren soll.
Setzt man die verfügbaren Puzzleteile dieses merkwürdigen Rettungspakets zusammen, zeichnet sich ein ziemlich düsteres Bild ab. Es sieht so aus, als habe man mit viel Mediengetöse die wahren Intentionen gezielt verschleiert. Meiner Meinung nach werden die Hürden bewusst immer höher gelegt. Kaum scheint sich ein Hauch von Konsolidierung anzubahnen, tauchen neue Hindernisse auf, die man dann im Kleingedruckten findet, das man vor lauter Erleichterung überlesen hatte.
Ich teile Deine Einschätzung, dass die Daumenschrauben weiter angezogen werden sollen. Das schrieb ich ja selber schon öfter. Das eigentliche Target dieser unglaublichen Entmündigung eines nur noch formell souveränen europäischen Staates scheint mir wirklich die radikale Privatisierung zu sein. Chinesische Banken wollen bereits Filialen eröffnen, um die Goldminen von Chalkidiki tobt ein Kampf zwischen Umweltschützern und den kanadischen Eignern usw. usw. Die
Schnäppchenjagd ist schon längst eröffnet, worüber in den deutschen Medien natürlich nicht berichtet wird. Griechenland ist nämlich im Grunde gar kein so armes Land, es soll aber mit allen Mitteln verhindert werden, dass es in die Lage kommt, seine Reichtümer selber zu nutzen, zu vermarkten und zu verteidigen. Daher ist das – wahrscheinliche – Scheitern der sogenannten Rettung nichts weiter als ein ganz besonders bösartiges Kalkül.