Sehr deutsch, sehr flexibel
Die EU hat es nicht eilig mit dem Brexit. London darf sich den Start der Scheidungs-Gespräche selbst aussuchen, ein Reform-Gipfel wird auf den Herbst verschoben. Wie üblich zieht Merkel die Fäden, doch eine Strategie hat sie nicht.
So viel deutsches Europa war nie. Kaum hatten die drei EU-Präsidenten Juncker, Tusk und Schulz am Freitag in Brüssel gemeinsam gefordert, die Verhandlungen über den Brexit so schnell wie möglich zu beginnen, trat Kanzlerin Angela Merkel auf die Bremse. Sie wolle sich für den Zeitplan “nicht verkämpfen” und nichts überstürzen, gab sie aus dem Kanzleramt den Ton an.
Kurz danach eilten Frankreichs Staatschef Hollande und Italiens Ministerpräsident Renzi nach Berlin. Dort mühte sich Merkel auf einem Dreiergipfel erfolgreich, die Rufe nach einem Neustart in der EU zu entschärfen.
Statt der Abkehr vom deutschen Sparkurs, den vor allem Renzi fordert, war danach nur noch vage von “neuen Impulsen” für die EU die Rede.
Und auch die werden auf die lange Bank geschoben. Schon zu Beginn des EU-Gipfel am Dienstag stellt Tusk klar, dass es zwar einen Prozess “tieferer Reflexion” über die Zukunft Europas geben soll – zu 27, also ohne Großbritannien.
Dieser Prozess soll aber erst auf einem informellen Sondergipfel im September beginnen. Eilig hat es Tusk offenbar nicht.
Auch bei den Austritts-Verhandlungen, die laut EU-Vertrag maximal zwei Jahre dauern können, aber durch eine offizielle Austritts-Erklärung ausgelöst werden müssen, zeigen sich einige EU-Chefs, allen voran Merkel, erstaunlich flexibel.
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bluecrystal7
30. Juni 2016 @ 05:10
“Statt der Abkehr vom deutschen Sparkurs, den vor allem Renzi fordert, war danach nur noch vage von „neuen Impulsen“ für die EU die Rede.”
Für Merkel gilt nach wie vor das Mantra der Alternativlosigkeit, vor allem bei der Sparpolitik…
hlschmid
29. Juni 2016 @ 22:18
Nach dem Brexit: Ein Europa der drei Präisdenten Tusk, Juncker, Schulz oder der drei Regierungschefs Merkel, Hollande, Renzi? Oder vielleicht doch endlich ein Europa der Bürger, für die Bürger und mit den Bürgern, d.h. Ihr Europa? http://www.our-new-europe.eu
S.B.
29. Juni 2016 @ 09:14
“Auch bei den Austritts-Verhandlungen, die laut EU-Vertrag maximal zwei Jahre dauern können, aber durch eine offizielle Austritts-Erklärung ausgelöst werden müssen, zeigen sich einige EU-Chefs, allen voran Merkel, erstaunlich flexibel.”
Die EU, in allen großen Krisen angeführt von Merkel, hat noch nie die eigenen Verträge interessiert. Das gilt für die Eurokrise genauso, wie für die Migrationskrise und nun die Brexit-Krise. Merkel lebt vom ständigen Rechtsbruch. Die Einhaltung des Rechs war für sie noch nie ein maßgebender Imperativ, wie sie national auch mit der “Energiewende” gezeigt hat.
Von Recht hat sie weder Ahnung noch Empathie dafür. Dabei lässt sie völlig unberücksichtigt, dass Rechtssicherheit die Voraussetzung für ein funktionierendes System ist. Mit verheerenden Folgen, wie man in D, aber auch in der EU allenthalben sehen kann.
Skyjumper
29. Juni 2016 @ 10:49
@ S.B.
Wo sehen Sie an dieser Stelle (Brexit) den Rechtsbruch? Das Procedere laut EU-Vertrag sagt doch klar und deutlich aus, dass das Austrittsland die Austrittserklärung abgeben muss, in diesen Fall also Großbritannien. Ein Rauswurf, sprich das die EU ihrerseits gegenüber Großbritannien die Kündigung erklärt ist in den EU-Verträgen meines Wissens nach ausgeschlossen. Merkel und Co. dürfen also gar nicht anders als “flexibel” darauf zu warten das Großbritannien die Initiative ergreift. Von Rechtsbeugung oder gar Rechtsbruch sehe ich da bisher keine Spur. Höchstens ein Vertragswerk das sich wieder mal als ziemlich ungeeignet erweist.
Ob Juncker und Tusk das nun wahrhaben wollen oder nicht: Bis GB die Austrittserklärung abgibt könnte noch sehr viel Wasser die Themse runter fliessen. Der Premier ist auch in GB nur oberstes Exekutivorgan. Er braucht einen Beschluß des Unterhauses. Bereits da bahnt sich jedoch der Ärger an. Schottland stellt im Unterhaus knapp 10 % der Abgeordneten die nach Bekunden von Sturgeon darüber nachdenken einen Brexitbeschluß zu torpedieren. Nordirland und Greater City of London haben gleichfalls Regionalparlamente die sich in dem Fall daran ein Beispiel nehmen könnten. Auch das britische Oberhaus könnte einen positiven Brexitbeschluß des Unterhauses noch eine gewisse Zeitlang blockieren.
Bei dem Chaos das derzeit in dieser nunmehr zentralen Frage der britischen Innenpolitik herrscht kann ich mir auch gut vorstellen dass die (vorausgesetzt brexit-willige) Regierung darüber gestürzt wird und es erst einmal neue Parlamentswahlen gibt. Und jede britische Regierung wird natürlich versuchen wenn irgend möglich bereits Gespräche über das Nachher-Szenario mit den EU-Ländern zu führen bevor die 2 Jahre zu laufen beginnen.
Und nur so ganz am Rande wild spekuliert: Wo steht eigentlich geschrieben, dass die Briten nicht versuchen eine Paralell-EU aufzubauen? Eine Freihandelszone ohne das politische Bohei drumrum? Dann würde es nämlich erst richtig lustig für die EU. Eine EU 2.0 ohne Brüssel und ohne die Nachteile, dafür aber die wirtschaftlichen Vorteile.
S.B.
29. Juni 2016 @ 11:04
@skyjumper: Im Artikel, letzter Absatz, steht nicht, dass sich Merkel hinsichtlich der Austritts-Erklärung, die sie freilich nicht selbst abgeben kann, flexibel zeigt, sondern hinsichtlich der Austritts-Verhandlungen. Darauf bezieht sich mein Kommentar in Sachen Rechtsbruch.
Zu Ihrem letzten Absatz: Diese Idee hatte ich letztens auch schon irgendwo gelesen. Ich meine, es war bei achgut.com. Ich finde sie nicht uninteressant. Zumal Wettbewerb ja schon immer den Fortschritt begünstigt hat. 😉 Warum soll das nicht auch in Sachen Europa gelten?
Skyjumper
29. Juni 2016 @ 14:19
@ S.B.
Okay, das kann man so verstehen. Da die Austrittsverhandlungen ja aber noch gar nicht begonnen haben (mangels Austrittserklärung) kann man da eigentlich noch gar nicht flexibel sein. Deswegen habe ich es anders verstanden.
Und da Verhandlungen ein Ausloten von Möglichkeiten ist, bzw. sein sollte, sehe ich auch da noch keine Rechtsbeugung oder einen Rechtsbruch. Sie sind mir ganz allgemein oft ein bißchen schnell mit diesen, doch sehr schwerwiegenden, Vorwurf.
@ Peter Nemschak
“Wenn es um Rechtsbruch geht, sind die Gerichte zuständig. Haben Sie kein Vertrauen in diese?”
Ehrlich gesagt: Das Vertrauen in die Gerichte wird immer weniger. Zu oft in den letzten Jahren mußte man das Gefühl haben dass die Gerichte (auch das BVerfG)weniger nach Gesetzeslage, als vielmehr nach politischer Opportunität, geurteilt haben. Ich gebe offen zu, dass ich in den letzten Jahren kein Richter am Bundesverfassungsgericht gewesen sein wollte. Wer sorgt schon gerne dafür dass die bestehende Ordnung zusammenbricht?
Ich bin kein Verfassungsrechtler, deswegen spreche ich hier auch nur von “Gefühl”. Aber ich habe im Studium durchaus einige Semester lang Vorlesungen in verschiedenen Rechtsmaterien gehabt. Wäre ich nun gezwungen gewesen einige Fälle zum Thema “EZB” und/oder “EU” zu beurteilen wären meine Urteile auf Basis meines Verständnisses der Gesetzestexte anders ausgefallen.
Peter Nemschak
29. Juni 2016 @ 13:32
S.B. Wenn es um Rechtsbruch geht, sind die Gerichte zuständig. Haben Sie kein Vertrauen in diese?
S.B.
29. Juni 2016 @ 14:24
@Peter Nemschak: Selbstverständlich nicht (ich bin Jurist)! Sie haben zufällig die Entscheidung des BVerfG zum OMT-Programm der EZB mitbekommen? Spätestens diese sollte Ihnen die Augen geöffnet haben. Das der EUGH sich nicht den Ast (= EU) absägt, auf dem er sitzt und der brechen würde, wenn er das OMT-Programm für rechtswidrig erklärt hätte, ist klar. Das sich das BVerfG, das vorher erhebliche Bedenken hatte, nach der EUGH-Entscheidung aber um 180 Grad dreht, ist seinerseits sehr bedenklich. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das höchstens formell noch zu tun, inhaltlich dagegen in keiner Weise.
Zu diesem Thema gäbe es auch mit Blick auf die nationale Rechtsprechung viel zu berichten, die in Teilbereichen sehr ideologisch bzw. mit Blick auf die vorherrschende Politik geprägt ist.
Peter Nemschak
29. Juni 2016 @ 09:13
Der Schock von BREXIT für andere austrittswillige Gruppen der EU soll zumindest eine Zeit lang erhalten bleiben und, so steht zu hoffen, wirken. Auch die britischen Bürger müssen die Konsequenzen ihrer Entscheidung zu spüren bekommen, sonst wird der demokratische Prozess zur Farce. Ob die betroffenen Menschen aus ihrer BREXIT-Entscheidung für die Zukunft lernen werden, bleibe dahingestellt. Die europäische Geschichte der letzten 2000 Jahre spricht nicht dafür. Inzwischen können sich die Mitgliedsländer in den politisch eher flauen Sommermonaten überlegen, welche Politikanpassungen sie vornehmen wollen. Die Bürger müssen begreifen, dass die EU kein Paradies auf Erden, der Austritt aber jedenfalls die schlechtere Alternative ist. Dessenungeachtet muss die EU in Zukunft positive Akzente setzen, will sie langfristig bei den Bürgern besser akzeptiert werden. Dass nicht nur die Politiker sondern auch das Volk irrtumsanfällig sind, soll den Radikaldemokraten eine Lehre sein.
S.B.
29. Juni 2016 @ 10:04
@Peter Nemschak: “Die Bürger müssen begreifen, dass die EU kein Paradies auf Erden, der Austritt aber jedenfalls die schlechtere Alternative ist.”
Diese Aussage möchte ich so nicht teilen. Die EU ist ein Paradies auf Erden: Für die in Brüssel und Straßburg politisch Agierenden und deren Beamten- und Angestelltenschar genauso, wie für Groß- und Finanzindustrie. Besser kann es für die gar nicht laufen, als mit diesem Lobby-Verein EU. Für alle anderen ist die EU wahrlich kein Paradies auf Erden, sondern eine echte und zudem völlig unnütze Belastung, hinsichtlich derer praktischerweise keinerlei effektives Mitspracherecht besteht.
Peter Nemschak
29. Juni 2016 @ 11:30
Was wollen Sie konkret mitentscheiden und durch welchen Mechanismus? Die Akteure im europäischen Parlament und im Rat sind alle auf nationaler Ebene demokratisch gewählt. Der Einwand, dass die Kommission und einzelne Mitglieder vom europäischen Parlament nicht abgewählt werden können, hat mit mangelnder Demokratie nichts zu tun. Auch der US-amerikanische Kongress kann die amerikanische Regierung nicht abwählen. Trotzdem sind die USA eine Demokratie. Mir scheint, der Frust hat viele Gesichter, die sich aber im Unklaren sind, was sie eigentlich wollen.
S.B.
29. Juni 2016 @ 12:38
@Peter Nemschak: Ich kann Sie versichern, dass ich mir völlig im Klaren bin, was ich will und was nicht. Das eine Frust-Gesicht, das ich nicht will, ist das der EU (Sie wollen nicht im Ernst behaupten, dass diese Institution bzw. deren Institutionen demokratisch legitimiert sind…). Das andere Gesicht heißt Merkel (inkl. deren nationaler Gefolgschaft, quasi das gesamte deutsche Parlament). Beides sind für mich Gesichter des undemokratischen Grauens.