Merkels kaltes Europa

Ein neues Buch zur Europapolitik enthüllt: Kanzlerin Merkel sind Prinzipien wichtiger als Problemlösungen. Sie wollte ein EU-Armutsziel verhindern und Defizitländer entmündigen. Zudem verhinderte sie schon 2008 eine Bankenunion – und machte so erst die Eurokrise möglich.

Wenige Wochen vor der Europawahl zeigt sich Kanzlerin Merkel von ihrer Schokoladenseite. Gestern lächelte sie in London, um Premier Cameron den Rücken zu stärken. Doch Merkel hat auch eine andere, dunkle Seite.

Zum Beispiel im März 2010, mitten in der Griechenland-Krise. Die EU-Kommission möchte die Armutsbekämpfung in die EU-Strategie für 2020 aufnehmen und ein konkretes Ziel – 20 Millionen weniger Arme und Ausgegrenzte – vorgeben.

Zur Armutsbekämpfung wird es keine Zustimmung Deutschlands geben“

Doch Merkel ist dagegen: „Zur Armutsbekämpfung wird es keine Zustimmung Deutschlands geben“, wird sie zitiert. Das sei keine Aufgabe der EU, basta. Madame Non hat zugeschlagen.

Doch sie kann sich nicht durchsetzen. Denn Frankreichs damaliger Präsident Sarkozy enthält sich, und Ex-Eurogruppenchef Juncker bietet ihr Paroli.

Juncker findet auch den Trick, mit dem das Problem gelöst wird: Man rechnet die Zahl der Armen einfach höher, dann fällt auch die Senkung leichter.

Außerdem bleibt das EU-Ziel unverbindlich – bei einem Verstoß muss Deutschland keine Konsequenzen fürchten. Merkel stimmt zu, heute ist Juncker der Favorit von CDU/CSU für die Europawahl.

Merkel fordert die Höchststrafe für “Defizitsünder”

Doch es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass sich Merkel als kaltherzige Prinzipienreiterin präsentiert. Noch unglaublicher klingt die Geschichte vom 28. Oktober 2010.

Wieder ein EU-Gipfel, wieder Krisenstimmung. Griechenland ist immer noch nicht gerettet, bald sollte auch Irland vor den Attacken der Märkte kapitulieren.

Doch Merkel hat nichts Dringenderes im Sinn, als „Defizitsünder“ zu strafen. Und zwar mit der Höchststrafe, die im EU-Vertrag vorgesehen ist: Dem Stimmrechtsentzug im Ministerrat. Damit verliert ein Land  jeden Einfluss über EU-Entscheidungen.

„Das Land würde entmündigt und gedemütigt“, schreiben Gammelin und Löw, die Autoren des Buches. Diese Strafe ist denn auch noch nie angewandt worden, sie ist nur für schwere Menschenrechtsverletzungen gedacht.

Doch Merkel zieht Sarkozy auf ihre Seite und macht Druck.  Zu viele Schulden machen ist in ihrer Logik genauso schlimm wie Menschenrechte zu verletzen. Doch sie kann sich nicht durchsetzen.

Bankenrettung: “Chacun sa merde”

Die „surrealistische Diskussion“ findet sich später in keinem offiziellen Dokument wieder – genauso wenig wie Merkels Nein zu einem europäischen Bankenrettungsfonds. Der wurde nämlich schon im September 2008 vorgeschlagen, gleich zu Beginn der Finanzkrise.

Damals kam die Idee aus den Niederlanden, Frankreich war dafür, doch Merkel sagte Nein. „Chacun sa merde – jedem seine Scheiße“, schimpfte Sarkozy.

Merkel hatte den Weg für eine rein nationale Bankenrettung geebnet – er sollte Länder wie Irland oder Spanien in den Abgrund führen. Noch heute ist die Bankenkrise in der EU nicht gelöst.

Quelle: Cerstin Gammelin/Raimund Löw: Europas Strippenzieher, Econ-Verlag