Mehr Deutschland, weniger Europa

Kanzlerin Merkel sei keine überzeugte Europäerin, kritisiert SPD-Kandidat Steinbrück. Das hat ihm viel Ärger eingetragen. Dabei hat der Mann vollkommen recht, wie eine Bilanz der Merkel-Jahre zeigt.  Die Kanzlerin redet von „mehr Europa“, meint aber mehr Deutschland.

Bravo, Peer Steinbrück! Endlich wagt es einmal ein deutscher Politiker, Leidenschaft für Europa einzufordern. Und endlich stellt ‘mal jemand klar, dass diese Leidenschaft bei Kanzlerin Merkel schwach ausgeprägt ist, um es vorsichtig auszudrücken.

Gewiss, man kann trefflich darüber streiten, ob es glücklich war, Merkels distanziertes Verhältnis zur EU ausgerechnet mit ihrer ostdeutschen Herkunft zu erklären. Schließlich gab es auch und gerade in der DDR viele, die in Europa ihre Heimat sahen (und nicht in der Sowjetunion).

Doch in der Sache hat Steinbrück völlig recht. Eine leidenschaftliche europäische Rede der Kanzlerin hat es – wenn überhaupt – schon seit Monaten nicht mehr gegeben. Merkel hat es bisher nicht einmal für nötig gehalten, ihre unglückliche Euro-Rettungspolitik zu erklären – und den Vorwurf zu entkräften, ihr Kurs verlängere die Krise.

Das fällt nicht nur dem SPD-Herausforderer unangenehm auf. Auch Altkanzler Kohl hat sich schon über seine Nachfolgerin mokiert. „Die macht mir mein Europa kaputt“, wurde Kohl auf dem Höhepunkt der Eurokrise im Juli 2011 zitiert. Der Alte ließ das zwar hinterher dementieren, doch andere CDU-Politiker stießen in dasselbe Horn.

Der hessische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vorsitzende Bouffier vermisste damals ebenso klare Worte wie der Chef des CDU-Wirtschaftsrats, Lauk. Merkel lasse nicht nur Führung vermissen, sondern riskiere sogar, das europafreundliche Erbe der CDU zu verspielen, warnten Parteiexperten.

Wenig später ging Merkel zwar mit der Parole „mehr Europa“ in die Offensive.  Doch der Spruch war geklaut – bei Arbeitsministerin von der Leyen, Merkels schärfster parteiinterner Rivalin. Zudem wurde er nie mit Inhalt gefüllt. Auf die große „Mehr Europa“-Rede warten wir bis heute vergeblich.

Und das ist auch nicht verwunderlich. Folgt man dem Merkel-Biografen S. Kornelius, so hat es die Kanzlerin mit einem Ausbau der EU nämlich nie ernst gemeint. Bereits im Sommer 2011 habe sie einen Bauplan erarbeitet, schreibt Kornelius, der auf das genau Gegenteil hinausläuft: weniger Macht für Brüssel, mehr Macht für die Mitgliedsstaaten – also vor allem für Berlin.

Damit wandte sie sich von dem unter deutscher Ägide fertiggestellten EU-Vertrag von Lissabon ab. Der sieht nämlich eine immer engere Union – mit weiterer Vergemeinschaftung auf EU-Ebene – vor. Stattdessen schuf Merkel mit Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirmen EFSF und ESM eine Parallel-Union neben der EU, in dem die Euro-Geberländer den Ton angeben.

Dass das kein Ausrutscher war, zeigte sich in den Verhandlungen über das neue EU-Rahmenbudget für die Jahre 2014 bis 2020. Merkel machte sich nicht etwa die Forderung der EU-Kommission und der Süd- und Osteuropäer zu eigen, der Gemeinschaft mehr Geld zu geben, damit sie aktiver gegen die Krise kämpfen kann.

Ganz im Gegenteil: Gemeinsam mit dem britischen Premier Cameron setzte sie die erste Kürzung des Gemeinschaftsbudgets in der EU-Geschichte durch. Kurz zuvor, beim EU-Gipfel im Dezember 2013, hatte sie alle Pläne zum Ausbau der Euro-Gemeinschaft zu einer vollständigen Währungsunion – mit eigenem Budget, eigenem Finanzminister und Gemeinschaftsanleihen – zunichte gemacht.

Spätestens da hätte Merkel ihre Europa-Wende erklären müssen. Wie passt es zusammen, wenn man „mehr Europa“ fordert und weniger Europa erzwingt? Seit wann macht Deutschland mit den Euro- und EU-Skeptikern aus Großbritannien gemeinsame Sache? Wie soll der Euro dauerhaft stabilisiert werden, wenn er nicht wenigstens über vergleichbare Institutionen verfügt wie der US-Dollar oder der japanische Yen?

Doch es kam wieder – nichts. Merkel überging die größte und wohl auch folgenreichste Wende der deutschen Europapolitik, als wäre nichts gewesen. Sie verpasste ihre historische Chance, den neuen Kurs zu erklären – und zwar nicht nur zu Hause in Berlin, sondern auch in Brüssel. Bitte nicht stören, ich muss eine Wahl gewinnen, hieß fortan ihr Motto.

Doch auch die Opposition hat geschlafen. Wo war denn Peer Steinbrück, als Merkel den hochkarätigen Bericht der EU-Präsidenten zum Ausbau der Währungsunion in die Mülltonne kloppte?

Wo war die SPD, als die Kanzlerin das EU-Budget zusammenstrich – übrigens auch gegen den erklärten Willen des Europaparlaments? Dessen Präsident Schulz (SPD) protestierte erst, dann schluckte er das Diktat aus Berlin und London.

Es stimmt schon, Merkel ist keine leidenschaftliche Europapolitikerin. Aber bei Steinbrück und seien Genossen sieht es kaum besser aus.

Sollten sie aus Versehen doch noch an die Regierung kommen, werden sie alle unerklärten Windungen und Wendungen der Kanzlerin mittragen – oder was wollen Sie denn anders machen, Herr Steinbrück?

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Cicero Online, der Text steht hier. Mehr zu Steinbrücks Europa hier