Lost in Krisenmodus
Am Montag war mal wieder Europatag, doch niemand war zum Feiern zumute. Denn die EU steckt nicht nur in der “Polykrise” – sie verstrickt sich auch immer mehr in Widersprüche. Hier ein paar aktuelle Beispiele.
[dropcap]E[/dropcap]s handelt sich um Erklärungen und Beschlüsse aus Brüssel und Berlin, der (un-)heimlichen Hauptstadt der EU:
- Die Flüchtlingskrise für beendet erklären und nationale Grenzkontrollen verlängern (außer am Brenner);
- Für jeden abgelehnten Flüchtling 250.000 Euro verlangen und Sozialleistungen für EU-Migranten kürzen;
- Den IWF im Griechenland-Programm an Bord halten und sein Hauptanliegen (Schuldenschnitt) ablehnen;
- Volle Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger empfehlen und den Staatsstreich in Ankara ignorieren;
- Die polnische Regierung rügen und die pro-europäischen Demonstranten allein im Regen stehen lassen;
- Der Türkei 6 Mrd. Euro Hilfe in Cash zusagen und Griechenland 5 Mrd. Euro Hilfskredite vorenthalten;
- Dem Papst huldigen und die Schande von Idomeni hinnehmen, sich sogar über die Chaos-Bilder freuen;
- Mehr Demokratie geloben und jede, aber auch jede Volksabstimmung ignorieren – zuletzt in Den Haag;
- Die EU-Standards hochhalten und zugleich mit den USA über neue (niedrigere?) Standards verhandeln;
- Den Brexit fürchten und nichts tun, um ihn zu verhindern – oder seine Folgen für Europa abzumildern.
Es ließen sich noch viele andere Beispiele hinzufügen. Die EU ist derart in ihrem Krisenmodus gefangen, dass ihr diese schreienden Widersprüche nicht einmal mehr auffallen…
winston
11. Mai 2016 @ 19:32
@ Mayer
Die 3% und 60% Regel ist für eine Optimaler Währungsraum völlig irrelevant. Diese Regel hat Deutschland durchgesetzt (Export) . Die 3-60 Regel bezieht sich auf die Staatsverschlungung, wieso hat man nicht so eine Regel auf die AUSLANDSVERSCHULDUNG durchgesetzt ? Deswegen das man möglicherweise weniger exportieren könnte ?
Maastricht Vertäge:
Italien hält die Maastricht Verträge bez. 3% Defizitgrenze strickt ein seit 2012. Deshalb ist Italien dermassen in der Scheisse. Hingegen D. F. E, P, Irland, Gr. NICHT. und auch DE nicht. 8.5% Surplus 2015.
Wobei die 6% Surplus Grenze Eben von Deutschland durchgesetzt worden ist. Das ist ein völliger Witz, die müsste bei +- 2% sein, MAXIMUM.
Andreas Meyer
11. Mai 2016 @ 11:10
@ebo Weitere “Symptome” der Dauerkrise:
* Die zwei “Grossen” Europas (Italien und Frankreich) erhalten weiterhin eine Sonderbehandlung im Hinblick auf die Maastrichter Verträge (3-60) (“les intouchables”)
* Die Bankenrettung Italiens und Staatsfinanzierung durch die EZB geschehen seit langem weitesgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit.
* Im Gegensatz zu “Italen” ist das Problem “Griechenland” lösbar – es ist und bleibt eine rein politische Entscheidung. Statt einer dauerhaften Lösung erleben wir seit Jahren halbherzige Massnahmen (vorwiegend Sparmassnahmen zur Haushaltskonsolidierung) eine durch Politiker angeheizte Medienkampagne (womit die Bürger der jeweiligen Länder gegeneinander ausgespielt werden), eine Verweigerung des demokratischen Dialoges (Autoritarismus statt Konsens) mit den griechischen Regierungen (Papandreou, Samaras, Tsipras) und menschenverachtende Austerität (vgl. UNO-Bericht, Bericht des EU-Parlament, Rechtsgutachten, etc.).
* Strukturreformen nach dem Modell der “Agenda 2010” in einem Land (Frankreich) dessen BIP zu über 67% von der Binnennachfrage abhängt. Politique de rigueur ou déjà Austerité ? Die Folgen werden sein: Anstieg der sozialen Unsicherheit (précarité), der Verlust an Arbeitsplätzen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze werden sich die Waage halten. Die Nachfrage im Binnenmarkt wird aber sinken und damit das BIP. Die Forderungen des Maastrichter Vertrages werden so nicht eingehalten werden können.
* Deutschlands extremer Exportüberschuss wird weiterhin von der EU-Komission akzeptiert. Es gibt keine ernsthaften Massnahmen, um das Nord-Süd Gefälle in der EU zu bekämpfen.
* Strukturreformen werden nicht dort durchgeführt, wo sie notwendig sind: in Spanien, wo eine hochkorrupte Bank vom Staat gerettet werden musste, entwickelt sich derzeit die nächste Immobilienblase
GS
11. Mai 2016 @ 10:53
Ich habe da mal eine Frage zu den 250.000 Euro pro Flüchtling. Wie kommen die auf diese Zahl? Ich habe da einen Verdacht: Das sind die Kosten für das aufnehmende Land, mit denen pro Flüchtling kalkuliert wird.
ebo
11. Mai 2016 @ 10:56
Ja, so ähnlich ist es. Die EU-Kommission hat die Kosten kalkuliert, incl. Sprachunterrricht, Ausbildung und ähnlicher Folgekosten. Auf wie viele Jahre sie das berechnet hat, ist allerdings unklar. Mein Eindruck ist, dass der “Preis” bewußt hoch angesetzt wurde, um den “Ablasshandel” unattraktiv zu machen, also Länder wie Polen davon abzuschrecken, KEINE Flüchtlinge zu nehmen…
GS
11. Mai 2016 @ 23:22
Okay, selbst wenn da großzügig aufgerundet wurde, die Zahl ist doch Wahnsinn. Ich möchte das gerne mal groß in den deutschen Medien lesen oder hören: Sorry, liebe Deutsche, wir haben uns geirrt. Letzten August haben wir noch gesagt, dass jetzt das neue Wirtschaftswunder kommt. Aber hey, das kommt ganz bestimmt noch, ihr müsst nur vorher noch pro Flüchtling 250k abdrücken. Sind ja bei einer Million nur 250 Mrd., die habt ihr doch locker noch übrig, oder? Und wenn nicht, bisschen bei der Krankenversorgung geht doch immer noch.
ebo
11. Mai 2016 @ 23:28
Naja, Deutschland gehört ja zu den Willigen, die nicht zahlen müssen. Die 250k sind als Strafzahlung für die Unwilligen in Osteuropa gedacht.
Claus
11. Mai 2016 @ 09:18
Gutes Resümee – dem ich bis auf „pro-europäischen Demonstranten“ zustimme. „Pro-europäisch“ geht eigentlich garnicht, „pro-EU“ würde noch gehen, wobei sich über die Legitimität der EU, sich in innere Angelegenheiten Polens einzumischen, streiten lässt. Nach meiner Auffassung fehlt der EU das politische Mandat hierfür.
Und nach dieser Aufstellung überlege ich mir einmal mehr, was wäre, wenn sich in Brüssel ein riesengroßes (wohl besser: gigantisches) Loch auftäte und der gesamte EU-Laden da hinein rauschte. Würde es in der Realwelt außerhalb von Brüssel jemand beklagen?
PS: Mir persönlich würde dieser Blog fehlen!
ebo
11. Mai 2016 @ 09:26
Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Demonstranten in Polen wenden sich gegen ihre nationalistische Regierung und bekennen sich zu Europa und der europäischen Idee. Die EU ist doch nur noch ein Karikatur dieser Idee; sie bringt es nicht mal fertig, sich mit den Demonstranten zu solidarisieren…
S.B.
11. Mai 2016 @ 09:40
@ebo: Defacto demonstrieren die polnischen Demonstranten aber für die konkrete, realexistierende EU, denn etwas anderes ist nicht vorhanden. Anderslautende europäische Idee hin oder her. Die EU ihrerseits ist viel zu sehr mit sich selbst und ihren existenzbedrohenden Unzulänglichkeiten beschäftigt, als das sich ihre Vertreter mit “ihren” Bürgern solidarisieren könnten. Das ist wohl ohnehin nicht das Ziel der ganzen EU-Veranstaltung. Sie ist eben nicht für die Menschen gemacht, sondern für die Wirtschaft und hier auch nur für die Großindustrie in Export und Finanzen.
Claus
11. Mai 2016 @ 10:12
@ebo: Über die Hälfte der Polen haben genau diese Regierung gewählt, die diese Politik und dieses Verhältnis gegenüber der EU als richtig erachtet. Davon kann man durchaus halten, was man will. Alle, die das nicht wollen, können ihren Unmut gern in Demonstrationen auf der Straße zum Vortrage bringen, oder bei den nächsten Wahlen wie gehabt oder anders wählen. So funktioniert Demokratie.
S.B.
11. Mai 2016 @ 08:42
Guten Morgen!
“Die EU ist derart in ihrem Krisenmodus gefangen, dass ihr diese schreienden Widersprüche nicht einmal mehr auffallen… ”
Das ist aber noch eine sehr, sehr freundliche Beschreibung. Mir würden da ganz andere Termini einfallen. Aber es wissen ja alle, was gemeint ist. Man kann schlicht kein einziges gutes Haar in der EU-Suppe finden. Insofern sei die Überlegung erlaubt, warum in Polen derart viele pro-europäische Demonstranten auf die Straße gehen. Für welches “Pro” gehen die denn bitte auf die Straße?
DerDicke
11. Mai 2016 @ 11:17
In der Ukraine waren es zum Teil bezahlte “Demonstranten”, die mit Bussen herangeschafft wurden…