Kohls Europa ist tot
Die EU will ihre Dauer-Krise vergessen machen. Der eigens kreierte Staatsakt für Altkanzler Kohl kommt da wie gerufen. Er wird als Hochamt für das “deutsche Europa” zelebriert – dabei wollte Kohl genau das nicht.
Repost vom 17.06.17
Altkanzler Kohl ist tot – und wird von unseren kleinen EU-Politikern sofort als “großer Europäer” vereinnahmt. Auch Kanzlerin Merkel stimmt in den Chor ein. Dabei wollte Kohl ein völlig anderes Europa als sie.
“Die macht mir mein Europa kaputt”1, soll Kohl schon 2011 gesagt haben. Das war auf einem der vielen Tiefpunkte der Eurokrise. Merkel ließ sich damals von Ratingagenturen und Spekulanten treiben.
“Mein Europa” – das bedeutete Kohl viel. Zwar hat er mit der Wiedervereinigung zuallererst Deutschland und den Nationalismus gestärkt – vor allem auf dem Balkan sollte das fatale Folgen haben.
Doch der Altkanzler verstand, dass der Anschluß der DDR nicht zum Nulltarif zu haben war. Er überging die Westmächte, ging danach aber auf Russland und vor allem auf Frankreich zu.
Ob die Einführung des Euro der “Preis” für die Wiedervereinigung war, ist bis heute umstritten. Frankreichs Ex-Präsident Mitterrand nutzte jedenfalls die Gelegenheit, und Kohl schlug ein.
Zwar wurde der Euro zu deutschen Konditionen eingeführt, “3,0 ist 3,0”, tönte Finanzminister Waigel. Aber Kohl wußte noch, dass die neue Währung ohne politische Union nicht funktionieren würde.
Er wollte diese politische Union – im Gegensatz zu Merkel, die dieses Ziel offenbar vergessen hat. Frankreich war für ihn der unverzichtbare Partner – und nicht eine lästige Option, wie für Merkel.
Kohl wäre es nie in den Sinn gekommen, kleine Euroländer wie Finnland oder die Niederlande gegen Frankreich auszuspielen, wie dies Merkel und ihr Adlatus Schäuble in der Eurokrise gemacht haben.
Er hätte auch nicht verstanden, warum Merkel sich ausgerechnet auf die Briten stützt, um ihre Macht in der EU auszubauen. Er wollte kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland.
Heute hat man schon vergessen, wo der Unterschied liegt…
P.S. Ich habe das alles als Journalist hautnah miterlebt. Als ich 1994 nach Paris kam, war Mitterrand noch an der Macht. Über die Verhandlungen zum Euro habe ich für das “Handelsblatt” und den “Tagesspiegel” berichtet. – Mehr zu meiner Zeit in Paris hier. Mehr zum deutschen Europa hier
hintermbusch
2. Juli 2017 @ 20:32
“Die Entwicklung der letzten 25 Jahre ist in der EU friedlich verlaufen. Darauf kommt es an”.
Die Vergangenheit ist vergangen. Die Frage ist doch, ob und wie es in der Zukunft vernünftig laufen kann.
Mit einem Europa, in dem in Berlin alle wesentlichen Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die übrigen Europäer angemessen darauf Einfluss nehmen können, wird es kaum gut laufen. Das würde jeder Staatstheorie widersprechen, jeder Begründung für Demokratie, die zwei Generationen (offensichtlich verständnislos) nachgebetet haben. In jeder halbwegs funktionierenden Monarchie gab es mehr Dialog zwischen Regierenden und Regierten als im “Deutschen Europa”.
Dieses Problem ist in den letzten fünf Jahren richtig offensichtlich geworden, so dass man es kaum abtun kann mit “Et hätt noch emmer joot jejange”.
Peter Nemschak
3. Juli 2017 @ 08:53
Lassen wir das Schwarzmalen, bleiben wir in der Realität. Offenbar ist der Widerstand gegen das, was manche ein deutsches Europa nennen, nicht wirklich stark. Zumindest gibt es keine Einheitsfront unter den EU-Mitgliedern. Wenn es den anderen zu viel wird, werden sie etwas dagegen tun. Offenbar wirkt Deutschland in etlichen Dingen eher als beneidetes Vorbild als abschreckend, ausgenommen vielleicht auf linksliberale Intellektuelle diesseits und jenseits des Rheins, die überall das Gras wachsen hören wollen.
hintermbusch
3. Juli 2017 @ 13:12
“Wenn es den anderen zu viel wird, werden sie etwas dagegen tun.”
Hoffentlich gibt es dann geordnete und offene Wege für die entsprechenden Nachrichten.
Peter Nemschak
2. Juli 2017 @ 11:02
Seit der deutschen Wiedervereinigung ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Damit sind auch Kohls Visionen mittlerweile überholt. Europa hat sich weiterentwickelt. Sollte es inzwischen mehr deutsche Färbung erhalten haben, ist das kein Unglück. Die Entwicklung der letzten 25 Jahre ist in der EU friedlich verlaufen. Darauf kommt es an, ob mehr oder weniger deutsch ist irrelevant.
Martin du Bois
1. Juli 2017 @ 19:32
I’ve been digging up some old files. Back in 1991 I interviewed then-Commission President Jacques Delors for The Wall Street Journal. Question: Why not just concentrate on the 1992 single market?
Answer: „I took this job in 1984 because I thought the challenge
for European countries was a choice between survival or
decline. So we needed a strong idea to get out of that. And
the idea that seemed to be the right one was to get rid of
all the obstacles to trade, which cost us so much money,
which stifle competition and prevent the best from winning.
It was an idea which was acceptable to Social Democrats,
Conservatives, as well as Christian Democrats.
But we couldn’t just build a single market. And that’s
where you find two concepts of Europe. There was one concept
that suited former British Prime Minister Margaret Thatcher:
We’ll build the single market and for the rest we’ll
cooperate. But there were the others who were saying, no,
we’ll make the single market, but our idea is also to create
a political Europe.
So the European house that we want to build cannot rest on
economic foundations alone. In national states you have more
than just a market. You have the national budget, the central
bank and the dialogue between social partners {trade unions
and employers}. Well, we want to do the same thing, in a
modest way, on the European level.“
During the same interview, Delors also backed the idea of a European defence. That was 26 years ago… We’ve had the Euro since, but things haven’t really moved much further — or if they have, they’ve done so very modestly indeed. Political Europe? Social Europe? Who dares say those words today? Any „strong ideas“ out there?
hintermbusch
1. Juli 2017 @ 13:12
Die Vereinnahmung und Verklärung von Kohl ist tatsächlich sehr peinlich. Einerseits ist es tatsächlich so, dass dem Pfälzer Kohl die Verständigung mit Frankreich unendlich viel näher am Herzen lag als der Preußin Merkel. Als gebürtiger Südbadener und Wahl-Bayer bin ich in diesem Punkt ganz bei Kohl.
Zweitens fallen in die Regierungszeit Kohls unglaubliche Skandale, bei denen auch Blut geflossen ist, was von der Regierung Kohl zumindest gedeckt wurde. Dazu nur 3 Beispiele:
1.) Am 15.10.1987 berichtete die Basler Zeitung, „von gewichtiger deutscher Seite“ sei der Wunsch an die Schweizer Behörden übermittelt worden, den Tod Uwe Barschels als Selbstmord einzustufen. Der Bericht blieb von offizieller Seite unkommentiert und unwidersprochen.
2.) Am 1. April 1991 wurde der Chef der Treuhand Detlef Carsten Rohwedder in professioneller Manier erschossen durch ein Fenster seines Hauses, das im Gegensatz zu anderen nicht kurz vorher durch kugelsicheres Glas ersetzt worden war, um Rohwedder besser zu schützen. Ein Täter wurde nie gefasst, aber die Strategie der Treuhand in Ostdeutschland unter der Nachfolgerin sofort komplett revidiert.
3.) Die CDU-Parteispendenaffäre war für die Regierung Kohl über lange Zeit eine existentielle Bedrohung, sicher mit gutem Grund. 1999 ist der Augsburger Oberstaatsanwalt Jörg Hillinger, der mit dieser Affäre juristisch befasst war, bei einem mysteriösen Unfall mit seinem neuen Opel Astra ums Leben gekommen. Ein Untersuchungsbericht des Bayerischen Landtags schloss (natürlich) Manipulationen an seinem Fahrzeug aus. Danach wurde aber aus der CDU-Parteispendenaffäre immer mehr die Karl-Heinz-Schreiber-Affäre.
Ich bin mir sicher, bei einem gegenerischen ausländischen Staatschef würden solche Vorkommnisse in Deutschland erheblich stärker in die Diskussionum um sein Erbe geraten als bei Helmut Kohl. Sie stehen eben einer Verklärung im Weg.
Peter Nemschak
1. Juli 2017 @ 17:20
Alle Spitzenpolitiker haben dunkle Flecken in ihrer Karriere, egal ob in Deutschland oder in irgendeinem irgend einem anderen Land. Politiker sind keine Heiligen, am wenigsten erfolgreiche Politiker und Staatsmänner. Das soll ihren Verdiensten keinen Abbruch tun.