Kaum Streit, wenig Hoffnung

Rekord-Arbeitslosigkeit und Ukraine-Krise überschatten die Europawahl, die heute beginnt. Die Spitzenkandidaten haben es nicht geschafft, eigene Themen zu setzen und Hoffnung , zu verbreiten – eine Bilanz.

Stell Dir vor, es ist Europawahl, und keiner geht hin. Dies ist das Horrorszenario aller EU-Politiker, nun könnte es wahr werden. Zu Beginn der Abstimmung deuten fast alle Umfragen auf großes Desinteresse und niedrige Wahlbeteiligung hin.

Dabei sollte diesmal doch alles anders werden: Zum ersten Mal gehen EU-weite Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien an den Start, erstmals soll der Bürger über den nächsten Kommissionspräsidenten entscheiden können.

Doch die Wahl zwischen M. Schulz und J.-C. Juncker – den Frontrunnern der Sozial- und Christdemokraten – funktioniert schon in Deutschland nicht. Der SPD-Mann Schulz ist zwar laut Umfragen wesentlich populärer als Juncker.

Doch bei der Sonntagsfrage liegen Junckers Konservative vorn – und das, obwohl (oder vielleicht gerade weil) der Luxemburger auf kaum einem Wahlplakat zu sehen ist.

Offenbar ziehen viele Deutsche letztlich doch die Partei der Kanzlerin vor, auch wenn Merkel gar nicht zur Wahl steht.

Ähnlich dürfte es in vielen EU-Länder sein. Nationale Präferenzen sind immer noch stärker als europäische Politiker. Köpfe allein können die Bürger offenbar nicht für die EU begeistern.

Doch was ist mit den Themen? Da sieht es doch wesentlich besser aus, sollte man meinen. Schließlich arbeitet sich Europa gerade mühsam aus fünf Jahren Dauerkrise heraus.

Gerade hat Portugal den Euro-Rettungsschirm verlassen, in Washington gehen die Verhandlungen über das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP weiter – an spannenden Themen ist wahrlich kein Mangel.

Doch selbst die großen Streitfragen scheinen die Wähler nicht zu mobilisieren. Nur 1,79 Millionen Zuschauer schauten beim ersten großen TV-Duell im ZDF zur Prime Time zu. Die Quote von 5,8 Prozent war ein Flop, selbst „Germany’s Next Top Model“ kam auf ein besseres Ergebnis.

Dabei wurden bei dieser Sendung alle Themen abgefragt – von Eurokrise bis TTIP, von Griechenland bis Ukraine. Schulz und Juncker gaben sogar Antworten; dummerweise waren sie sich in den meisten Fällen ziemlich einig.

Hier liegt die Crux: Diesem Europawahlkampf fehlt der Streit, und es fehlt das eine, große und alles beherrschende Thema. Normalerweise hätte dies die Wirtschafts- und Sozialkrise sein sollen, ja müssen.

Schließlich liegt die Arbeitslosigkeit in Europa höher denn je, in Südeuropa ist fast jeder zweite Jugendliche ohne Job, in Griechenland und Spanien wächst eine „lost generation“ heran.

Doch Schulz und Juncker fassen das Thema mit Samthandschuhen an, der Konsens überwiegt, Hoffnung auf ein Ende der Krise verbreiten sie nicht.

So tragen sie zu Demobilisierung bei, nur Linke und Grüne wagen – allerdings kaum vernehmlichen – Widerspruch. Letztlich ist es den Kandidaten bisher nicht gelungen, glaubhafte Alternativen zu formulieren.

Lesen Sie morgen in Teil 2: Wie Merkel mit der Ukraine-Krise punktet