Jeden Knochen fressen
Nach der US-Wahl ist es in Deutschland Mode geworden, die amerikanische Medien für ihre Kurzatmigkeit und ihren Mangel an Realitätsbezug zu rügen. Plötzlich ist sogar dem SPON-Vorzeigeblogger S. Lobo alles irgendwie zu schnell und meinungslastig. Vielleicht sollte Herr L. sich auch mal unsere führenden Medien vornehmen. Die haben nämlich alle immer genau dieselben Fakten und Meinungen.
Ein schönes Beispiel lieferte heute wieder die “Zeit”-Meldung über Frankreich, Schäuble und die deutschen Wirtschaftsweisen. Sie wurde von allen Medien nachgezogen und für gut befunden, obwohl die Weisen selbst dementieren. Nicht nur das: alle schwimmen im Mainstream mit. Alle schreiben, dass es Frankreich soooo schlecht geht, dass Schäuble es doch nur guuut meinte, und dass das mit den Experten für Frankreich eine gute Idee wäre, schließlich sitzen wir doch alle im selben Euro-Boot, nicht wahr?
Auf die Idee, die Wirtschaftslage in Frankreich mit der in Deutschland zu vergleichen, kommt keiner. Dann wäre nämlich aufgefallen, dass Schäuble selbst eine starke Abkühlung der Konjunktur einräumen musste. Niemand kam auch auf die Idee, darauf hinzuweisen, dass unser Finanzminister die Weisen und ihre Ratschläge regelmäßig ignoriert. Und dass heute in Berlin das ökonomisch völlig unsinnige Betreuungsgeld verabschiedet wurde, passte natürlich auch nicht zu der schönen Frankreich-Bashing-Story…
Nein, die meisten deutschen Journalisten fressen jeden Knochen, den man ihnen hinwirft – und fragen nicht einmal, warum er ihnen hingeworfen wurde. Sie schreiben die Story so, dass sie “rund” ist – und nicht so, dass sie Ecken und Kanten hat, was journalistisch viel interessanter wäre. Gleichzeitig mokieren sie sich über die USA und Frankreich. Wie nennt man gleich nochmal so eine Haltung?
Mehr zur Schäuble-Frankreich-Story hier.
ebo
10. November 2012 @ 17:39
@mira Frankreich steht wirtschaftlich nicht gut da, stimmt. Aber zum einen ist dies das Erbe des von Merkel hochgeschätzten Sarkozy. Zum anderen ist es längst nicht mit Italien oder Spanien zu vergleichen. Die franz. Wirtschaft wächst noch, anders als die italien. oder spanische. Und sie ist längst nicht so exportabhängig wie die deutsche. Deshalb ist es auch falsch, allzu stark auf Wettbewerbsfähigkeit zu schielen. Entscheidender ist die Binnennachfrage. Wenn die auch noch einbricht, dann gute Nacht. Genau das ist aber mit einem harten Sparkurs zu fürchten…
Sven
10. November 2012 @ 10:15
@mira: Anders herum wird ein Schuh daraus. Preise = Kosten = Umsätze sind ja die Antreiber der Produktivität! Wenn ich mir mit meinem Einkommen alles leisten kann, brauch ich den Mors nicht anzuheben. Nur wenn ich mich nach der Decke strecken muss, werde ich aktiv.
Oder anders gefragt: Wessen Preise = Umsätze gedenken sind denn zu senken?
mira
10. November 2012 @ 02:58
“Auf die Idee, die Wirtschaftslage in Frankreich mit der in Deutschland zu vergleichen, kommt keiner”
Da irren Sie Hr Bonse. Genau das ist ja vermutlich der Grund für ein solches Gutachten. Wenn sie sich mal von Ihren ideologischen Verengungen frei machen würden, könnten Sie auch die Schieflage erkennen, in der sich die frz Wirtschaft befindet. Und die lautet nun mal: das Preisniveau ist gegeben der Produktivität gut 20% zu hoch und infolge dessen mangelt es ihr an Wettbewerbsfähigkeit. Punkt. Zukünftige Probleme im Eurokorsett sind somit vorprogrammiert. Nichts anderes wird ja, völlig zu recht, angesprochen.
Daher sollte man die Gelegenheit nutzen und es Italienern, Spaniern etc gleich tun, für die Zukunft des Euros und Europas!!!
Nicolai Hähnle
10. November 2012 @ 10:18
Alles eine Frage der Perspektive, mira. In Deutschland ist das Preisniveau (insbesondere die Löhne und Gehälter!) 20% zu niedrig im Vergleich zur Produktivität. Zehn Jahre Lohndumping gehen nicht spurlos an einer Volkswirtschaft vorbei.