Haben wir eine Wahl?

Die Bundestagswahl wird nicht viel an der deutschen Europapolitik ändern. Davon sind die meisten Experten in Brüssel überzeugt. Auch (Noch-) Kanzlerin Merkel will an ihrem umstrittenen Kurs festhalten – selbst in einer großen Koalition. Haben wir also gar keine Wahl?

Alles soll weiter gehen wie bisher. Die hoffnungslose Rettungspolitik, die brutale Konditionalität, die Abhängigkeit von den Märkten – ohne gemeinsame Haftung und Eurobonds.

So hat es Merkel auf einem ihrer letzten Wahlkampfauftritte verkündet. Auch eventuelle Koalitionsverhandlungen mit SPD und/oder Grünen würden daran nichts ändern, so die Noch-Kanzlerin.

Haben wir also gar keine Wahl? Geht in Europa alles weiter wie zuvor? Bleibt selbst ein Votum für Linke oder AfD, die bei meiner aktuellen Umfrage vorn liegen, ohne Folgen?

Ich bin nicht dieser Meinung. Zwar wird sich an den großen Linien nicht mehr viel ändern lassen. Das deutsche Europa, die neoliberale Ausrichtung, die Postdemokratie ohne echte Mitsprache – das alles sitzt tief.

Doch gerade für Europa ist diese Wahl wichtiger denn je – wohl auch wichtiger als die Europawahl im Mai 2014.

Erstens setzt oder bricht sie einen Trend: Wenn Merkel ihre Mehrheit verliert, kann das progressive Lager in Europa auch für 2014 hoffen. Bleibt sie an der Macht, können Schulz & Co. einpacken.

Zweitens kann diese Wahl neue europapolitische Optionen öffnen – oder verhindern. Wenn die schwarzgelbe Koalition ein neues Mandat bekommt, dürfte sich kaum etwas bewegen.

Doch für den wahrscheinlicheren Fall, dass es nicht mehr für CDU/CSU/FDP reicht, dürften einige Tabus fallen. Dann sind die Marktradikalen weg, auch Finanzminister Schäuble geht dann wohl von Bord.

Man denke nur, was ein Finanzminister Asmussen (der wahrscheinlichste SPD-Kandidat) oder Trittin (der grüne Anwärter) alles anders machen könnten. Schäuble hat es sich zuletzt mit fast allen verdorben…

  • Eine große Koalition würde vermutlich neue Akzente für ein sozialeres Europa mit weniger Austerität setzen, ein schwarzgrünes Bündnis die Energiewende auf EU-Ebene vorantreiben.
  • Auch das Wahlergebnis für Linke und AfD zählt. Wenn die AfD den Einzug in den Bundestag schafft, und Merkel Kanzlerin bleibt, müssen wir uns auf eine verstärkt nationale Linie einstellen – und auf mehr Konflikte in Brüssel.
  • Wenn die Linke zulegt, und die SPD mit CDU/CSU koaliert, ist wohl mit dem entgegengesetzten Trend zu rechnen: einer Abkehr vom deutschen Euro-Nationalismus, mehr Offenheit für Südeuropa und Frankreich.

Gewiss, das ist alles noch spekulativ. Aber man darf nicht vergessen, dass Merkel keinen eigenen, klar definierten Kurs in der Europapolitik hat – und dass sie schon unzählige “rote Linien” überschritten hat.

Zudem möchte Merkel, sollte sie bestätigt werden, wohl nicht als Totengräberin Europas in die Geschichte eingehen. Da die EU unverändert auf Crashkurs ist, wird sie also nolens volens die Richtung ändern müssen.

Und genau da kommen dann die neuen Machtverhältnisse nach der Wahl ins Spiel…