Das Remain-Camp plant den Rollback
Nach dem Mord an der pro-europäischen Labour-Abgeordneten Cox schlägt die Stimmung in UK um. Die EU-Anhänger könnten nächste Woche doch noch siegen – aber selbst dann wäre nicht alles gut.
Hier die fünf größten Risiken eines Zitter-Siegs beim EU-Referendum am kommenden Donnerstag:
- Die Stimmung ist so aufgeheizt, das Land so gespalten, dass Großbritannien als verlässlicher und aktiver EU-Partner endgültig ausfallen könnte – eine Dauerblockade droht.
- Die EU-Gegner könnten nach einer Niederlage ihre Taktik ändern und versuchen, die EU von innen auszuhöhlen und immer mehr Kompetenzen in die Staaten zurück zu verlagern.
- Wenn Premier Cameron bleibt – und davon ist bei einem Sieg des Remain-Camps auszugehen – wird er zuerst seine neuen Extrawürste einfordern. Auch das lähmt die EU.
- Wenn Cameron zudem seine “special relationship” mit Kanzlerin Merkel fortsetzt, dann droht der neoliberale Durchmarsch: bei CETA und TTIP, in Spanien, Portugal etc.
- Last but not least droht bei einem Sieg von Remain die Gefahr, dass sich Merkel & Co. beruhigt zurücklehnen und ihre Politik fortsetzen – es wäre ein Sieg von “Weiter so!”
Wie real dieses Risiko ist, zeigt ein Leitartikel in der “Times”. Sie bekennt sich zu “Remain” – und fordert ein Bündnis mit Deutschland, Dänemark und den Niederlanden.
Das Ziel für Cameron laut “Times”: Frankreich in Schach halten – und ein neoliberales Rollback in ganz EUropa einleiten! Oh my god…
Peter Nemschak
19. Juni 2016 @ 11:10
Neoliberal ist, wie die rote Katze, ein inhaltleeres Politgespenst, das in Wahrheit nicht existiert, aber für Propagandazwecke sich immer wieder als nützlich erweist. Hinter dem Kampfbegriff neoliberal verbirgt sich der wachsende Widerstand der Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer im industrialisierten Westen, der in zunehmender Feindlichkeit gegenüber den herrschenden Eliten und im Erstarken des Populismus jedweder Schattierung zum Ausdruck kommt – quer über den politischen Garten der westlichen Welt. Die Kommunalwahl in Rom ist jüngstes Beispiel für diese Entwicklung. Es wird, wie immer in der Geschichte, zu Korrekturen kommen. Wie genau der demokratische Korrekturmechanismus funktionieren wird, wird man am deutlichsten in den USA, dem Land der Extreme, studieren können. Die EU, welche das sozialste Staatengebilde der Erde ist, als neoliberal zu bezeichnen, ist doch etwas weit hergeholt. Zu befürchten steht, dass, wie bei jeder politischen Korrektur, das Kind mit dem Bad ausgegossen wird: von der Marktwirtschaft zurück in die “pseudodemokratische” Funktionärswirtschaft. Noch ist es für die Opportunisten verfrüht die Fronten zu wechseln.
ebo
19. Juni 2016 @ 15:05
Lesen Sie mal D. Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford Press, New York. Ist schon 12 Jahre auf dem Markt 🙂
Skyjumper
19. Juni 2016 @ 17:36
Manchmal möchte ich Ihren Optimismus haben @Peter Nemschak 🙂
Eine Marktwirtschaft haben wir nach meinen Verständnis schon lange nicht mehr. Und der sogenannte “Liberalismus” in der Wirtschaft ist eine Begriffsumdeutung die Orwell alle Ehre machen würde.
Ja, Sie haben Recht, es sind die Globalisierungsverlierer die diesem Prozess einen wachsenden Widerstand entgegensetzen. Er wächst aber leider viel langsamer als die Anzahl der Globalisierungsverlierer die einen stetigen Zustrom aus den Reihen der Nochnichtverlierer verzeichnen.
Am Ende werden “wir” alle die Verlierer sein. Die meisten können/wollen das nur noch nicht erkennen. Wobei “wir” ein Begriff ist der nicht ganz zutreffend ist. Ich bspw. werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr der Verlierer sein. Für mich ist das was die EZB (und nahezu alle anderen maßgeblichen ZB’s) im Verbund mit der EU, dem IWF, den nationalen Regierungen etc. veranstalten der Garant dafür, dass sich mein Wohlfühlkokon noch eine Weile aufrechterhalten lässt. Für mich persönlich wird das wohl reichen.
Aber wenn Sie Wirtschaftstheorien, simpelste Mathematik und globale Bevölkerungsentwicklungen miteinander verknüpfen wird recht schnell klar warum wir eigentlich diese teils abstrusen Schwenks in der Politik, die ständigen Rechtsbeugungen, TINA-Bekundungen und Beschwichtigungen erleben. Der Kapitalismus, und damit auch die Wohlfahrtsstaaten, sind kurz vorm Ende der Fahnenstange angelangt wenn sich in den kommenden 1-2 Jahrzehnten nicht noch eine grundlegende Erfindung/Entwicklung auftut.
Ich würde für die heute 20-25 jährigen und jünger eine sehr sehr unruhige Zeit erwarten.
hlschmid
19. Juni 2016 @ 09:33
Sein oder Nichtsein – das ist doch die Brexit-Frage! Und die Ursache der Brexit-Raserei! Die Wahl zwischen dem Alles und dem Nichts. Als ob es dazwischen nichts gäbe. Warum nicht endlich eine Grundsatzdebatte in ganz Europa für alle Europäerinnen und Europäer: Was für ein Europa, was für eine Demokratie wollen Sie? http://www.our-new-europe.eu macht dies möglich!
GS
18. Juni 2016 @ 14:09
Das Wichtigste zuerst: Punkt 2 sehe ich mittlerweile eher als wünschenswert als als bedrohlich an. Ein paar Schritte zurück würde uns allen gut tun, denke ich. Die EU ist mittlerweile eben nicht mehr Problemlöser, sondern Problemerschaffer oder gar -verstärker. Mit dieser EU und diesen Eurokraten will ich keine Vertiefung.
Punkt 1: Da sollte man sich keine Illusionen machen. Bis zur Handlungsunfähigkeit polarisiert ist die Lage in vielen Ländern. Und das wird durch einen Brexit eher noch stärker werden.
Punkt 4: Da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Ob TTIP & Co. kommen, wird nicht an der Mitgliedschaft des UK hängen.
Punkt 5: Wie realistisch ist es, dass Merkel, Hollande & Co. im Falle eines Brexits zu was anderem in der Lage sind als einem “Weiter so”?
Punkt 3: Ja, mag sein.
Für mich kommt neben meiner Aussage zu Punkt 2 hinzu, dass sich der Schwerpunkt der EU ohne UK ganz gewaltig nach Süden verschiebt, in Richtung der Länder, die seit Jahrhunderten dem Norden hinterherhinken. Ich sehe nicht, was daran begrüßenswert sein soll.