Die EUphorie war trügerisch
Erdogans Machtergreifung in der Türkei, die Abschaffung des Rechtsstaats in Polen, die neue Flüchtlingskrise in Libyen und Italien: Die EU ist an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Die EUphorie der letzten Wochen war trügerisch.
Wir haben verstanden, jetzt wird in die Hände gespuckt: Gerade einmal vier Monate ist es her, dass die EU-Politiker auf dem Jubiläumsgipfel in Rom Besserung gelobt haben.
Kanzlerin Merkel versprach Sicherheit und Stabilität, Kommissionschef Juncker präsentierte sich als tatkräftiger Politiker, der die Zukunft der EU mutig gestaltet und optimistische Zukunfts-Szenarien entwirft.
Doch nun geschieht: nichts. Die Europapolitik ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Obwohl die EU nach der Wahl in Frankreich angeblich wieder in Topform ist, leidet sie an Beißhemmung.
- Der Machtergreifung Erdogans, die mit offenen Morddrohungen gegen Regimegegner einhergeht, wird tatenlos zugesehen. Die EU zahlt weiter Geld für den illusionären EU-Beitritt, Juncker hält “die Tür offen”.
- Die Abschaffung des Rechtsstaats in Polen beantwortet Brüssel mit einem Rechtsstaats-Verfahren, das ins Leere läuft. Warschau soll die Justizreform zurücknehmen – Sanktionen sind keine in Sicht.
- Die Flüchtlingskrise in Italien will die EU mit einem Exportverbot für Schlauchboote (kein Witz!) und absurden Auflagen für die Helfer lösen. Der Failed State Libyen gilt weiter als guter “Partner”.
Juncker ist hoffnungslos überfordert
All das zeigt, dass Juncker und sein Team hoffnungslos überfordert sind. Sie sind nicht einmal in der Lage, eine realistische Bestandsaufnahme vorzunehmen, von Kurskorrekturen ganz zu schweigen.
Doch es wäre zu einfach, die Schuld allein bei Juncker abzuladen. Der Luxemburger ist auf Gedeih und Verderb von Kanzlerin Merkel abhängig. Nichts geht mehr ohne Berlin, nichts geht mehr mit Berlin.
Denn in Deutschland ist “Wahlkampf”, und Merkel hat eine Art Politik-Sperre verhängt. Niemand darf Sultan Erdogan ärgern, niemand die Polen vergrätzen, niemand an der Flüchtlingspolitik rühren.
Hauptsache gute Geschäfte
SPD-Kandidat Schulz wettert zwar über die Politik-Verweigerung – doch Merkel und Juncker anzugreifen wagt er nicht. Offenbar war er zu lange in die GroKo und in Junckers Kuschelkurs eingebunden.
So werden die neuen alten Krisen in EUropa weiter schwelen, bis es irgendwann und irgendwo wieder lichterloh brennt. Hauptsache, Deutschland ist nicht betroffen!
Hauptsache, das deutsche Europa kann weiter gute Geschäfte machen – und die EU-Kommission kann Merkel weiter den Rücken freihalten. Deshalb: Bitte nicht stören!
Foto: Nick Papakyriazis / Flickr
Art Vanderley
24. Juli 2017 @ 21:50
Stellt sich die Frage, ob die neoliberalen EU-Vertreter überhaupt ein Problem sehen in den Vorgängen in der Türkei und Polen, autokratisches Denken ist Juncker und Co. jetzt nicht wirklich fremd.
In den „guten“ deutschen Geschäften könnte die Keimzelle liegen für einen Zusammenbruch, der Deutschland voll erwischen könnte zu einem Zeitpunkt, zu dem sich andere EU-Länder schon wieder zu erholen beginnen.
Wegen zu hoher Exportüberschüsse und dem erdrutschartigen Verfall der Glaubwürdigkeit einer hochkorrupten Autoindustrie, der unausweichlich auf Deutschland zukommen wird und nicht so schnell wieder gekittet werden kann.
F.D.
19. Juli 2017 @ 18:27
Komisch, dass Timothy Garton Ash die Situation trotzdem so wahrnimmt: “Leaders in Paris, Berlin and Brussels are now completely focused on their own tough challenges.” ( https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/jun/22/year-ago-britain-voted-leave-eu-worse-both-worlds )
ebo
19. Juli 2017 @ 18:52
F.D. Naja, Ash ist ja auch mit dem Karlspreis ausgezeichnet worden…
Freiberufler
19. Juli 2017 @ 12:46
“All das zeigt, dass Juncker und sein Team hoffnungslos überfordert sind. Sie sind nicht einmal in der Lage, eine realistische Bestandsaufnahme vorzunehmen, von Kurskorrekturen ganz zu schweigen.”
Kurskorrektur in welche Richtung? Der Vorrat europäischer Gemeinsamkeiten scheint sich im Zeitraffer zu erschöpfen. Erstmals ihrer Geschichte bekommt es die EU mit Problemen und Differenzen zu tun, die sich nicht mit Geld lösen lassen.
Peter Nemschak
19. Juli 2017 @ 10:10
In Sachen Libyen ist die EU als Ganzes zu schwerfällig. Hier sollten Deutschland, Frankreich und Italien gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Vielleicht tun sie es bereits, ohne dass wir es wissen. Drängelei in Sachen Polen ist kontraproduktiv. Im übrigen beginnt bald auch für die Politik der Ferienmonat. Dann wird das Ungeheuer von Lochness wieder wie alle Jahre durch die Medien geistern.
Claus
19. Juli 2017 @ 08:43
Danke für die treffliche Bestandsaufnahme. Und was bleibt zu sagen? Wenn sich mehr Menschen für Politik interessieren würden, wäre dieser Spuk in Berlin und Brüssel bald zu Ende. Und da dies nicht der Fall ist, wird es schön so weiterlaufen.
Zumindest bis zur BTW im September, und voraussichtlich auch danach.