“Es drohen viele IS”

Nach dem Attentat auf “Charlie Hebdo” in Paris hat die Ursachen-Suche begonnen. Haben die Täter mit dem “IS” in Syrien und Irak sympathisiert? Wird der Terror importiert? – Repost eines Interviews mit der syrischen Bloggerin und Freiheits-Kämpferin M. Shewaro von Dezember 2014.

Sie kommen aus Aleppo, wie ist derzeit die Lage in der Stadt?

Marcell Shewaro: Assad ist kurz davor, die Kontrolle zurückzugewinnen. Gleichzeitig wächst die Gefahr einer Hungersnot, weil die  Versorgung zusammengebrochen ist. In Aleppo wohnen immer noch 600.000 Menschen, doch es kommt kaum noch humanitäre Hilfe an.

Wie sieht man in Syrien den Kampf um Kobane, wo der Westen massiv interveniert?

Wir waren überrascht von der Reaktion des Westens. Die USA und ihre Verbündeten haben zunächst ja nicht einmal gemerkt, das da ein Islamischer Staat entsteht. Dabei ist der IS durchaus real. Ob es einem nun gefällt oder nicht, dort hat sich ein Staatswesen etabliert. In Syrien machen wir sogar böse Witze darüber: In fünf Jahren wird der IS einen Sitz in der Uno haben!

Aber genau das will die von den USA geführte Koalition doch verhindern?

Es gibt doch gar keine Koalition gegen den IS. Das einzige, was wir sehen, sind Luftschläge der USA. Doch die machen die Lage für die Menschen nicht besser, ganz im Gegenteil. Als die Angriffe begannen, gab es wenigstens noch die Hoffnung, dass Assad nun seine Luftschläge einstellen würde. Doch auch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Menschen in Syrien sind nun wütender denn je. Viele fragen sich, warum es so wichtig ist, den IS anzugreifen, nicht aber Assad. Geht es nur darum, die Sunniten zu schlagen? So kommt das bei vielen an.

Kennen Sie persönlich IS-Kämpfer aus Ihrer Zeit in Aleppo?

Ja, ich kenne sogar drei. Am Anfang waren das einfach nur abenteuerlustige Kids, die fasziniert von der Revolte in Ägypten waren und etwas Ähnliches machen wollten! Als sie zu den Waffen griffen, haben wir zunächst alle gedacht, das sei eine Art Heavy-Metal-Gruppe. Und niemand hat sie daran gehindert, nach Syrien zu kommen! Heute ist das natürlich anders. Aber die IS-Anhänger profitieren immer noch von dem Vorurteil, dass sie wenigstens wissen, wie man richtig kämpft…

Was könnte, was sollte die EU tun, um den Menschen in Syrien zu helfen?

Vor allem sollten die Europäer versuchen, den Syrern mehr Respekt entgegenzubringen. Wir haben IS in drei oder vier Tagen aus Aleppo vertrieben! Wenn es eine echte Partnerschaft zwischen der EU und den Syrern gäbe, dann käme auch nicht mehr der Eindruck auf, dass es um einen Kampf zwischen Christen und Moslems geht. Außerdem sollte die EU den Syrern helfen, eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Wir brauchen mehr Wissen, die Bildung sollte eine Priorität werden. Und natürlich sollte die EU Assad bekämpfen. Wenn wir nicht endlich den Bürgerkrieg beenden, wird es bald nicht nur eine, sondern viele IS geben.

Marcell Shewaro wurde in Aleppo geboren und erlebte dort den Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Nach dem Tod ihrer Mutter, die von syrischen Truppen erschossen wurde, flüchtete sie in die Türkei. International bekannt wurde Shewaro durch ihren 2008 gegründeten Blog (www.marcellita.com).