Eine Lizenz zum Töten? (Update 4.5.11)

„Die genauen Umstände haben es nicht zugelassen, ihn lebend zu fassen“

Die offenbar gezielte Tötung von Al-Kaida-Gründer Bin Laden durch US-Spezialkräfte in Pakistan hat ungewöhnliche Reaktionen in Brüssel ausgelöst. EU-Kommissionchef Barroso und Ratspräsident Van Rompuy gaben nicht nur eine gemeinsame Erklärung ab, was sehr selten ist. Sie begrüßten auch ausdrücklich die Erschießung des meistgesuchten Terroristen, was bisher – zumindest in einer schriftlichen Erklärung – undenkbar war. Bin Ladens Tod mache die Welt „sicherer“, heißt es da; die EU stehe mit den USA „Schulter an Schulter“.

Die beiden EU-Präsidenten brechen damit gleich mehrere Tabus. Sie übergehen das in allen EU-Staaten gültige Verbot der Todesstrafe, setzen sich über grundlegende rechtsstaatliche Prinizipen hinweg (z.B. das Recht auf einen ordentlichen Prozeß) und hebeln ganz nebenbei noch die institutionelle Trennung zwischen Kommission und Ministerrat aus (wobei sie die dritte EU-Institution, das Parlament, übergehen). Der demonstrative Schulterschluss mit den USA vermittelt zudem den Eindruck, dass die EU von einer eigenständigen Anti-Terror-Politik abrückt.

Der europäische Anti-Terror-Beauftragte De Kerchove scheint sich immerhin darüber im klaren zu sein, wie pikant dieser Positionswechsel ist. Die US-Operation habe das Ziel gehabt, Bin Laden zu fassen, um ihn der Justiz zu übergeben, behauptet der Niederländer, wobei offen bleibt, woher er diese (nicht offiziell bestätigte) Information hat. Doch „die genauen Umstände dieser äußerst komplexen Operation haben es nicht zugelassen, ihn lebend zu fassen, und haben zu seinem Tod geführt.“ Handelte es sich also nicht um eine Hinrichtung, sondern um eine Art „finalen Rettungsschuß“?

Offen bleibt auch bei dieser Deutung, ob die Tötung nur bei Bin Laden, oder bei allen mutmaßlichen Terroristen zulässig sein soll. Sind Terrorverdächtige künftig auch in Europa vogelfrei? Und wenn ja: Geschieht die Hinrichtung dann nach nationalem Recht, oder sanktioniert neuerdings auch die EU außergerichtliche Exekutionen? Warum hat man sich dann jahrelang gegen Bushs Anti-Terror-Krieg gesträubt und für eine internationale Strafgerichtsbarkeit stark gemacht?

Offenbar sind die EU-Spitzen in ihrer verständlichen Freude über den Schlag gegen den (wohl längst nicht mehr aktiven) Kopf von Al Kaida weit übers Ziel hinaus geschossen. Ihre Erklärungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Zugleich sollen sie offenbar vergessen machen, dass die EU im Kampf gegen den Terror kläglich gescheitert ist: Während es in den USA seit dem 11. September 2011 keinen Anschlag mehr gab, gab es in Madrid und London Dutzende Opfer. Al Kaida rekrutiert vor allem in Europa immer neue Anhänger; womöglich sinnen sie bereits auf Rache für ihr Idol Obama.

Der amerikanische Rachefeldzug hätte Europa dann nicht sicherer gemacht, wie Barroso und Van Rompuy vorgeben, sondern noch unsicherer…

Nachtrag 3.5.11

USA und EU rudern zurück: Entgegen der ursprünglichen Darstellung soll Bin Laden nun doch nicht gezielt getötet worden sein; vielmehr hätten die US-Spezialeinheiten versucht, ihn lebendig zu stellen. Wenn dem so wäre, wieso hat man es dann nicht gleich so dargestellt? Und was gilt denn nun – die Doktrin der gezielten Tötung von Terroristen, so wie in Israel? Oder eine andere Doktrin? So oder so sind die Verantwortlichen noch viele Erklärungen schuldig.

Nachtrag 4.5.11

In Deutschland muss sich Bundeskanzlerin Merkel nun rechtfertigen, weil sie sich über den Tod Bin Ladens gefreut hatte. Sie gerät sogar aus den eigenen Reihen unter Druck – der konservative Flügel der CDU kritisiert ihre Äußerungen. Immerhin ist dies ein Zeichen dafür, dass Demokratie und Öffentlichkeit funktionieren. In Brüssel hingegen sind die Äußerungen von Barroso & Van Rompuy schon wieder vergessen. Hier perlt Kritik immer noch folgenlos ab…


 


 


 

 

 

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