“Eine gespaltene Persönlichkeit”
Auch in der nächsten Legislaturperiode setzt Brüssel fast ausschließlich auf Marktöffnung und Liberalisierung. Die EU-Chefs haben dies in ihrer neuen “strategischen Agenda” bekräftigt. Doch ohne ein Sozialprogramm könnte die EU scheitern, warnt der Soziologe C. Crouch – ein Interview.
Von Manuel Müller
Wenn Sie eines an der Funktionsweise der EU ändern könnten, was wäre es?
Colin Crouch: Was an der Funktionsweise der EU derzeit am dringendsten geändert werden muss, ist ihr Fokus auf eine rein märkteschaffende Agenda und ihre daraus folgende Vernachlässigung der ausgleichenden Sozialagenda, die dafür notwendig ist.
Wie würde eine solche ausgleichende Sozialpolitik aussehen? Könnten Sie einige konkrete Maßnahmen nennen, die Ihrer Meinung nach helfen würden, um zu einer ausgewogeneren Agenda zu gelangen?
Als Erstes müssten wir anerkennen, dass wir, wann immer wir Märkte schaffen (was wir im Sinne einer verbesserten Effizienz häufig tun müssen), auch Schaden anrichten – Umweltschäden sind der offensichtlichste Fall, ein anderes Beispiel ist der erhöhte Stress, den härtere Arbeitsregimes im Leben der Menschen auslösen. Manchmal muss dieser Schaden einfach akzeptiert werden; manchmal sollten wir den Geschädigten Ausgleichsleistungen bieten; manchmal ist der Schaden so groß, dass die Marktaktivität reguliert werden muss. Manchmal ist auch für das Märkte-Schaffen selbst die Unterstützung von nicht marktbestimmten Institutionen erforderlich.
Dies wurde in früheren Phasen der Europäisierung durchaus anerkannt – zum Beispiel im Fall der Sozialcharta, die den Vertrag von Maastricht begleitete, oder zu Beginn dieses Jahrhunderts bei dem Bemühen, Arbeitsmarktflexibilität mit neuen Formen von Arbeitssicherheit zu verbinden. Derzeit aber drängen die europäischen Politikgestalter auf eine Intensivierung der Märkte, ohne sich sehr um die Folgen zu kümmern – wie die Behandlung der arbeitenden Bevölkerung in Griechenland, den anderen südeuropäischen Ländern und Irland zeigt.
Strategie für einen sozial investierenden Wohlfahrtsstaat
Der wichtigste Schritt in eine andere Richtung wäre eine europäische Strategie für einen sozial investierenden Wohlfahrtsstaat. Diese Idee, die von Wissenschaftlern in mehreren westeuropäischen Ländern ausgearbeitet wurde, verbindet die traditionellen Funktionen der Sozialpolitik mit dem positiven Beitrag, den sie für die wirtschaftliche Effizienz leisten kann. Dies würde zweifellos Veränderungen für die konservativeren Wohlfahrtssysteme in Europa bedeuten, aber durch eine konstruktive Stärkung anstelle der Zerstörung, die die heutigen EU-Politiktrends verbreiten.[hr]
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Der Kerngedanke des Sozialinvestitions-Ansatzes ist, den Gegensatz zwischen sozialer Gleichheit und wirtschaftlichem Wachstum zu überwinden. Durch den Fokus auf neue Formen der Sozialpolitik, die soziale Inklusion, Beschäftigungsfähigkeit und „Flexicurity“ verbessern sollen, versucht er beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen. Soziale Investitionen setzen jedoch einen aktiven Staat und umfangreiche öffentliche Ausgaben voraus, zum Beispiel für Bildung und Berufsausbildung. Sollten diese öffentlichen Ausgaben Ihrer Meinung nach auf europäischer Ebene erfolgen, was ein deutlich höheres EU-Budget erforderlich machen würde? Oder sollte die EU eher auf ihre bestehenden Instrumente wie das Europäische Semester setzen, um ihre Mitgliedstaaten zu einer aktiveren Sozialpolitik auf nationaler Ebene zu bewegen?
CC: Ich denke, wir benötigen eine Kombination beider Ansätze. Zum einen muss die EU (wie Sie sagen) den Sozialinvestitionsansatz mit den existierenden Instrumenten empfehlen, aber auch sicherstellen, dass nicht andere Elemente der Europapolitik – wie die Generaldirektion Wettbewerb oder der Europäische Gerichtshof – die Sozialpolitik unterminieren und die Sozialinvestitionsstrategie verhindern. Soziale Investitionen, nicht die bloße Zerstörung existierender Sozialpolitiken muss die Aufgabe sein, die Ländern wie Griechenland gestellt wird, welche Hilfe von den europäischen Institutionen benötigen. Viel davon dreht sich um die Neuausrichtung von existierenden Staatsausgaben, aber auch zusätzliche Ausgaben können notwendig sein, wo diese durch Steuererhöhungen finanziert werden können – besonders in solchen Ländern, in denen die Besteuerung derzeit nur zu wenig Umverteilung führt.
Andernfalls werden die Europäer aufhören, sich mit dem europäischen Projekt zu identifizieren
Darüber hinaus ist es aber auch nötig, Fonds für soziale Investitionen auf europäischer Ebene einzurichten – wobei schon viel erreicht werden könnte, indem man Ausgaben für einige derzeitige Programme umleitet, die wohl einen geringeren sozialen und wirtschaftlichen Wert haben als soziale Investitionen. Die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Marktes und das Niveau politischer Integration, das wir bereits haben, macht ein ähnliches Wachstum auch bei den europäischen Bürgerrechten erforderlich. Andernfalls werden die Europäer aufhören, sich mit dem europäischen Projekt zu identifizieren. Derzeit gibt es sehr wenig, worauf man zeigen und sagen könnte: „Ich habe einen Anspruch darauf, weil ich ein Bürger der EU bin.“ Rechte, die auf den Leitgedanken der Sozialinvestitionsstrategie beruhen, könnten eine moderne Form von Sozialpolitik sein, die für diesen Zweck sehr geeignet ist.
Wie Sie vorhin erwähnten, konzentrierten sich die Strukturreformen, die die EU in Griechenland und anderen von der Eurozone betroffenen Staaten vorantrieb, einseitig auf das Schaffen von Märkten und vernachlässigten die soziale Dimension. In der Europa-2020-Strategie, die der Europäische Rat im Juni 2010 verabschiedete, finden sich allerdings einige Sozialinvestitionsziele – wie eine geringere Schulabbrecherrate oder eine niedrigere Anzahl an Europäern, die in Armut leben – in durchaus prominenter Form. Was sind die Gründe für diesen Gegensatz zwischen offizieller Rhetorik und konkreter Politik? Oder, anders gefragt: Welche Hindernisse gibt es, um eine sozial ausgewogenere Agenda wirklich umzusetzen?
CC: Das Projekt der europäischen Integration hat eine Art gespaltene Persönlichkeit – das war schon immer so, aber heute ist eine ihrer schwierigeren Phasen. Das Hauptaugenmerk europäischer Politik lag seit jeher auf dem Schaffen von Märkten, was kein Geheimnis ist und ein wertvolles Projekt darstellt. Daneben aber gab es von Anfang an die Idee einer immer engeren Union. Dies umfasst hauptsächlich die Sozialpolitik – nicht nur auf der europäischen Politikebene, sondern auch in Form von Harmonisierung und wechselseitiger Anerkennung – und auch andere Symbole einer gemeinsamen Bürgerschaft.
Und die Vision der EU-Gründer, beide Ziele zu verbinden, war richtig. Wenn es in Europa nur um Märkte geht, werden wir niemals die Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals der europäischen Menschen entwickeln, die notwendig ist, wenn wir nationale Antagonismen begrenzen und in den Beziehungen zu anderen mächtigen Weltregionen zusammenarbeiten wollen. Um zu sehen, was passiert, wenn die Anführer eines Landes das europäische Projekt immer nur als eine Art Freihandelsabkommen beschreiben, muss man nur in das Vereinigte Königreich blicken, das derzeit in Gefahr ist, von einer Stimmung populistischer Fremdenfeindlichkeit zu einem EU-Austritt gedrängt zu werden, obwohl die Mehrheit der Politiker des Landes verstehen, dass wir ein Teil Europas sein müssen!
Eine intolerante Form des Neoliberalismus
>Die Persönlichkeitsspaltung der EU gewinnt zunehmend an Bedeutung, was an dem wachsenden Einfluss einer intoleranten Form des Neoliberalismus sowohl auf Ebene der EU als auch vieler ihrer Mitgliedstaaten liegt. Als der wichtigste politische Konflikt noch zwischen der Christdemokratie bzw. einem moderaten liberalen Konservatismus einerseits und der Sozialdemokratie andererseits ausgetragen wurde, gab es viel Spielraum für Kompromisse. Konservative waren eher marktfreundlich, aber sie akzeptierten die Rolle der Sozialpolitik; Sozialdemokraten kümmerten sich hauptsächlich darum, die Rolle der Sozialpolitik auszubauen, aber sie akzeptierten die Bedeutung der Marktwirtschaft.
>Doch seit der moderate Konservatismus durch einen aggressiven Neoliberalismus abgelöst wird, gibt es (in der EU und in einzelnen Staaten) Bewegungen, die Sozialpolitik abzubauen, zu vermarktlichen und zu privatisieren. Einige der damit verbundenen politischen Zielsetzungen bleiben zwar erhalten, aber sie werden von der vorherrschenden Ausrichtung auf das Schaffen von Märkten konterkariert und ignoriert. Dies ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden, und sie ist voll von Widersprüchen.
Weiterlesen auf dem Blog “Der (europäische) Föderalist”, der das Interview führte (und das Crosspost freundlicherweise erlaubte) – mehr hier.
Peter Nemschak
7. Juli 2014 @ 17:42
Niemand hindert Österreich daran, sein Pensions-, Bildungs- und Gesundheitssystem zu reformieren und günstige Voraussetzungen für Unternehmertum zu schaffen. Die demografische Entwicklung war seit zumindest 25 Jahren absehbar. Auch in wirtschaftlich guten Zeiten war der Reformeifer enden wollend nach dem Motto: nur keiner Gruppe wehtun, es könnte Wählerstimmen kosten – Bequemlichkeitsdemokratie. Es müssen alle Gruppen herangezogen werden (Beispiel: Schweden in den 90-iger Jahren). Was die Schweiz betrifft, hat sich diese trotz ihrer starken Währung recht ordentlich geschlagen.
Tim
7. Juli 2014 @ 14:29
@ ebo
Das hohe Bundesbudget ist ja gerade der Grund, warum Washington von rechten Amerikanern so gehaßt wird und warum das Land seit 20 Jahren gespalten ist. Der Bundesetat setzt sich übrigens (natürlich) überwiegend aus Sozialleistungen zusammen. All das, was sich die EU-Integrationisten auch wünschen.
Aber die Fed ist wirklich besser organisiert als die EZB, da stimme ich Dir zu. Zwischenstaatliche Salden müssen dort ja regelmäßig ausgeglichen werden (ich glaube, alle 3 Monate). Diesen Mechanismus hat der Euro-Raum mit seinem Target2-System bis heute nicht, was ja ein Teil des Krisenverhängnisses ist.
Peter Nemschak
7. Juli 2014 @ 11:06
@ebo und Tim: Die Lösung heißt Subsidiarität. Jedes Mitgliedsland soll für sich entscheiden können, ob es mehr oder weniger Staat will. Allerdings müssen sich alle innerhalb der Eurozone an die Stabilitätskriterien halten. Da diese eine Schuldenbegrenzung enthalten, können die Mitgliedsländer – bei derzeit schwachem Wirtschaftswachstum – nur mit strukturellen Umschichtungen innerhalb ihrer Budgets Politik machen (öffentlicher Konsum vs.Investitionen, Belastung der jetzigen Generation zugunsten der nächsten). Die bequeme und in der Vergangenheit von einigen Staaten gepflegte Variante, durch erhöhte Verschuldung und Währungsabwertung Politik zu machen, ist im gegenwärtigen System nicht zulässig. Flexibilisierungsregeln können dieses Dilemma nicht wirklich lösen. Notwendig wäre für jedes Mitgliedsland ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept, das alle gesellschaftlichen Gruppen bei der Sanierung der Staatshaushalte in die Pflicht nimmt, ausgaben- wie einnahmenseitig. Das Gejammer um den angeblich verlorenen Sozialstaat hilft nicht weiter. Die sogenannten goldenen 70-iger Jahre sind endgültig vorbei (Anmkg.: so golden waren sie auch wieder nicht).
ebo
7. Juli 2014 @ 11:51
Subsidiarität kling gut, ist aber eine Illusion. Zum einen wirkt der Euroraum als “nicht optimaler Währungsraum” einen enormen Druck auf die Sozial- und Tarifpolitik aus, die als einzige Variable bleibt (Abwertung und Verschuldung scheiden aus). Zum anderen bewirkt die neue Economic Governance der EWWU, dass Brüssel immer stärker in vormals nationale soziale und tarifpolitische Entscheidungen eingreift. Subsidiarität ist, so gesehen, ein noch schlimmerer Rückfall in die sogenannten goldenen 70er Jahre, denn in einer gemeinsamen Währungsunion kann dieses an sich sympathische Konzept nicht funktionieren (in UK ist das übrigens anders – ohne den Euro kann man Kompetenzen “zurückholen” und über mehr oder weniger Staat “entscheiden”, in der Schweiz vielleicht auch noch, aber schön in Ö nicht mehr)
Tim
7. Juli 2014 @ 13:08
@ ebo
Natürlich funktioniert Subsidiarität auch in einem heterogenen Wirtschaftsraum mit einheitlicher Währung. Man schaue (neben dem Paradebeispiel Schweiz, das Du ja auch nennst) nur in die USA, wo z.B. Texas seit langem von einer stringenten Wirtschaftspolitik profitiert, während andere US-Bundesstaaten nicht auf die Beine kommen. Auch in Deutschland bewirkt das bißchen Subsidiarität, das es in der Wirtschaftspolitik noch gibt, deutliche Unterschiede in der regionalen Prosperität.
Subsidiarität heißt nun mal, daß lokale Fehler auch lokal bestraft und belohnt werden. Der Euro-Raum macht es den Mitgliedsländern natürlich nicht gerade einfach, aber genügend regulativen Spielraum hätten die Problemstaaten allemal.
Dein Denkfehler ist, daß Wirtschaftspolitik nur aus Währungs,-, Sozial- und Tarifpolitik besteht. Gerade in den zukunftsträchtigen Branchen ist das nicht der Fall. Trenne Dich von dem Gedanken, daß Wirtschaftspolitik darin besteht, daß irgendwelche Geldströme irgendwohin geleitet werden müssen. Dann stößt Du auf die wirklich relevanten Aspekte.
ebo
7. Juli 2014 @ 13:27
Das föderale Budget der USA ist signifikant größer als das der EU. Und die Fed ist wesentlich aktiver als die EZB, sie hat auch ein expansiveres Mandat. Nur so am Rande.
Tim
7. Juli 2014 @ 10:21
@ebo: „Ich habe einen Anspruch darauf, weil ich ein Bürger der EU bin”. Mit diesem Leitgedanken paßt er doch prima ins EU-Establishment. Motto: Gemeinsam viel Geld ausgeben, Subsidiarität schwächen, EU-Prozesse demokratisieren. Und am Ende ist die EU tot.
Er denkt in dieselbe Richtung wie Juncker, nur radikaler. Diese Leute sind vollkommen blind für das, was in Europa wirklich passiert und was nötig wäre, um das europäische Projekt zu retten.
ebo
7. Juli 2014 @ 10:24
Bisher gibt es überhaupt keine Ansprüche gegenüber der EU, nur gegenüber den Nationalstaaten. Die EU-Ausgaben wurden zuletzt gekürzt, daran wird auch Juncker nichts mehr ändern. Die Demokratisierung ist überfällig.
Tim
7. Juli 2014 @ 10:31
Das finde ich ja so bedrückend an der Situation: Daß Ihr EU-Eliten allesamt an die Wunderwirkung der Demokratisierung glaubt. Bald werden 50 % der Europäer Brüssel genauso hassen wie 50 % der Amerikaner schon heute Washington.
Tim
7. Juli 2014 @ 09:59
Unglaublich. Dieser Mann hat offenbar überhaupt keine Ahnung von den Dingen, die außerhalb Europas geschehen. “Härtere Arbeitsregimes”, man kann nur den Kopf schütteln. Wie kann man nur so blind für die Welt sein. Europa ist doch keine Insel der Glückseligkeit, die man ganz bequem isoliert betrachten kann. Peter Nemschak hat mit seinem Kommentar ganz recht.
Und dann natürlich wieder die stumpfsinnige Neoliberalismus-Keule. Kein Neoliberaler kann in Europa auch nur einen Funken neoliberalen Denkens oder Handelns entdecken.
Er scheint auch nicht begriffen zu haben, daß die gigantischen EU-Investitionsprogramme der Vergangenheit eher Teil des Problems als Teil einer vernünftigen Lösung sind.
Ein Traumtänzer, der leider bestens in die heutigen EU-Eliten paßt.
ebo
7. Juli 2014 @ 10:03
@Tim Der Mann ist kein Teil der EU-Eliten, sondern einer ihrer schärfsten Kritiker. Sein bekanntestes Werk heißt “Postdemokratie” – darin beschreibt er den Zustand, in dem sich die EU befindet…
Peter Nemschak
7. Juli 2014 @ 08:17
Offenbar fehlt ein Konsens darüber wie viel Sozialstaat wir, d.h. die einzelnen Mitgliedsstaaten, uns leisten wollen und welche Gruppen in welchem Ausmaß davon profitieren sollen. Dass Europa weltweit über das am besten ausgebildete Sozialsystem verfügt, muss Ausgangspunkt für alle zukünftigen Überlegungen sein. Es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, wie man die bestehenden Systeme (Beispiele: Pensionssystem, Gesundheitssystem) zukunftssicher gestalten kann. Nachdem die wirtschaftlichen Voraussetzungen in den Mitgliedsländern sehr unterschiedlich sind, wird es keine einheitliche Lösung geben können. Was kann die EU zur Lösung, die von den Mitgliedsländern ausgehen muss, beitragen?