Durchregieren à la Merkel
Beim EU-Gipfel dieser Woche fehlt ein Thema: die umstrittenen Reformverträge, mit denen Kanzlerin Merkel Länder wie Frankreich auf neoliberalen Kurs bringen will. Bisher war der Widerstand zu groß – doch nun verspricht die neue EU-Kommission Abhilfe.
Von Lukas Oberndorfer
Vor wenigen Tagen ließ die designierte Kommission die Katze aus dem Sack: Sie will dafür sorgen, dass ihre wirtschaftspolitischen Forderungen durchsetzbar werden.
Deregulierung des Mietrechts, Anpassung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung und Flexibilisierung der Lohnfindung waren 2014 noch Empfehlungen. Das soll sich nun ändern.
Die Instrumente dazu sind Wettbewerbspakte 2.0 und ein eigener Haushalt für die Eurozone, auch wenn es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Auf den kommenden Treffen des Europäischen Rates wird die Grundsatzentscheidung fallen.
Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit, Wettbewerbspakte, Partnerschaften für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit – so zahlreich wie die Namen, sind auch die Versuche des Europäischen Rates einen Konsens über verbindliche Verträge für neoliberale Strukturreformen herzustellen.
Entsprechende Pläne verfolgt Angela Merkel als organische Intellektuelle eines „Reformbündnisses“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, den nationalen Finanz- und Wirtschaftsministerien, der EU-Kommission, neoliberalen Staatschefs und der EZB bereits seit Anfang des Jahres 2013.
Geht es dabei um jene Länder mit Finanzierungsschwierigkeiten auf den Finanzmärkten oder um jene Ökonomien, die übermäßige Handelsbilanzdefizite aufweisen? Nein.
Denn für diese sind im Windschatten der Krise längst Instrumente beschlossen worden, welche ihre Wirtschaftspolitik auf die Vorgaben des neoliberalen Reformbündnisses verpflichten.
Neoliberales Reformbündnis zielt auf die verbleibenden Länder
Bei den Wettbewerbspakten geht es nun auch um die verbleibenden Länder – z.B. Frankreich, Deutschland, aber auch Österreich. Für alle Euro-Staaten soll ein Hebel geschaffen werden, der – in den Worten der Kommission „politische Hindernisse für die Reform“ überwindet:
In bindenden Verträgen sollen sich die Länder auf „Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Sozial- und Gesundheitssystem und bei Pensionsregeln“ verpflichten. Wer zeitgerecht umsetzt, soll dafür einen „finanziellen“ Anreiz erhalten.
Doch bisher konnte im Europäischen Rat nicht die notwendige Einstimmigkeit für die Wettbewerbspakte erreicht werden. Zu groß war der Widerstand der unter anderem von Gewerkschaften, der AK und grenzüberschreitenden Bündnissen wie „Europa geht anders“ ausging, zu gering die Durchsetzungsmacht der scheidenden Kommission.
Alte Idee, neue Offenheit: Durchsetzbarkeit für Empfehlungen der Kommission
Das soll sich nun ändern. So berichtete das Handelsblatt vor wenigen Tagen, dass die für die entsprechenden Ressorts vorgeschlagenen Kommissare Moscovici und Dombrovskis „die Regierungen unbedingt dazu bringen“ wollen, „die bislang wenig beachteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU künftig einzuhalten.“ Obwohl damit „eine Idee von Angela Merkel aufgriffen wird, die eigentlich schon als erledigt galt“, ist an den Vorschlägen manches neu:
1) Bisher scheute die Kommission davor zurück, explizit festzustellen, dass ihre länderspezifischen Empfehlungen den Vertragsgegenstand der Pakte darstellen sollen.
2) Zur Bereitstellung der finanziellen Anreize bei Erfüllung der Wettbewerbspakte soll mittelfristig ein eigenes Budget für die Eurozone eingerichtet werden.
Doch geht es bei den Wettbewerbspakten um eine Auseinandersetzung zwischen EU und Nationalstaat? Nein. Vielmehr versuchen nationalstaatliche Akteure des neoliberalen Reformbündnisses, wie die Verbände der Industrie und die Wirtschafts- und Finanzministerien, die europäische Ebene zu nützen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Dies ist die gekürzte Fassung eines Artikels, den Lukas im Blog „Arbeit&Wirtschaft“ veröffentlicht hat. Der Originaltext, der um einiges länger ist, steht hier
Peter Nemschak
23. Oktober 2014 @ 18:45
@ebo Wo bleiben die Gewerkschaften, wenn es um das Lohndumping geht?
ebo
23. Oktober 2014 @ 18:50
Gute Frage. Fest steht, dass Schlachthöfe in der Normandie geschlossen wurden, weil die Hühner in Deutschland billiger geschlachtet werden. Und im teuren Luxemburg zittern die Angestellten um ihre Jobs, weil in Deutschland weniger gezahlt wird.
Peter Nemschak
23. Oktober 2014 @ 21:02
So ferne Gesetze gebrochen werden, sind die Rechtsbrecher zu verfolgen. Solange sich die Parteien gesetzeskonform verhalten, ist Wettbewerb zulässig und gut für den Konsumenten, der möglichst günstige Preise sucht. Würde ein Mobiltelefon heute in Europa entwickelt und erzeugt werden, könnte es sich nur eine schmale Elite leisten sowie vor 30 und mehr Jahren ein Autotelefon.
Helmut Nater
23. Oktober 2014 @ 11:30
Sicher wäre ein handhabbares Gesundheitssystem enorm Kostensparend und käme allen Zugute.Eine Krankenkasse und nicht Hunderte könnten viel Geld sparen welches ohnehin immer in die gleiche Richtung gespült wird!
Peter Nemschak
23. Oktober 2014 @ 10:53
Wenn man es anders haben will, muss man den EURO aufgeben. Im übrigen ist eine generelle Ablehnung von Liberalisierungen keine besonders intelligente Antwort auf reale Probleme. Die Knappheit von leistbarem Wohnraum in wachsenden Ballungszentren ist tatsächlich ein Problem, allerdings mit Mietzinsobergrenzen, die hauptsächlich den Schwarzmarkt fördern, nicht zu beheben. Eine Mietzinsfreigabe mit gleichzeitiger Subjekt- statt Objektförderung für sozial Schwache sowie verstärkter sozialer Wohnbau würden helfen, das Angebot an Wohnraum zu vergrößern und dadurch die dafür verlangten Mieten zu dämpfen, zumindest was deren Wachstum betrifft.
ebo
23. Oktober 2014 @ 13:50
Meines Wissens wurde der Euro nicht eingeführt, damit die Mitglieder gegenseitig Steuer-, Lohn- und Sozialdumping bzw. -Wettbewerb machen. Es war auch keine Rede davon, dass die EU-Kommission den Euroländer Vorschriften in der Finanz- und Sozialpolitik gemacht; die sind nämlich nicht vergemeinschaftet.
Peter Nemschak
23. Oktober 2014 @ 16:37
Von Wettbewerbsbeschränkungen war, nebenbei bemerkt, bei der Einführung des Euro keine Rede, was nicht heißen soll, dass Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten sinnvoll ist. Unterschiedliche Lohnniveaus und Sozialleistungen in den Mitgliedsstaaten sind Ergebnis unterschiedlicher historischer Produktivitätsentwicklung, auch differieren die Preisniveaus sowie die Höhe der Staatsverschuldung. Ohne die Verschuldungsobergrenzen, zu denen sich die Mitgliedsländer bereit erklärt haben, ist der Euro allerdings nicht zu halten. In einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft mit geringen Transport- und Informationskosten und rasantem technischen Fortschritt hat sich der Wettbewerb dramatisch verschärft mit entsprechenden Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte, vor allem im mittel- und niedrigqualifizierten Segment. Das mag man bedauern, ist aber ein Faktum.
ebo
23. Oktober 2014 @ 16:48
Die größten Wettbewerbsbeschränkungen gibt es wohl in Deutschland – Stichworte Energie, Dienstleistungen, Verkehr, aber auch Medien, öffentliche Beschaffung, Handwerk… Dazu kommt noch das Lohndumping, über das sogar Luxemburg klagt…
Peter C.
23. Oktober 2014 @ 10:13
Sicherlich kann man das Ganze als „neoliberal“ bezeichnen. Ich würde dafür aber eher die Begriffe planwirtschaftlich/sozialistisch verwenden.