Drei neue Zeichen für den Zerfall der EU
Seit dem Brexit-Referendum in Großbritannien deutet vieles auf den Niedergang der EU hin. Der jüngste EU-Gipfel hat diesen Eindruck bestätigt – die Chefs waren völlig machtlos. Hier drei neue Zeichen für den Zerfall:
- In der Handelspolitik, einer klassischen Domäne der EU, geht nichts mehr. TTIP ist auf dem Abstellgleis gelandet, CETA droht endgültig zu entgleisen. Die Renationalisierung und Regionalisierung ist fatal.
- In der Außen- und Sicherheitspolitik, mit der die EU nach dem Brexit trumpfen wollte, geht auch nichts voran. Weil man sich über Russland und Syrien nicht einig ist, bleiben nur hilflose Drohgebärden.
- Die Führungsriege der EU ist heillos überfordert. Kommissionschef Juncker ist abgetaucht, Ratspräsident Tusk hat keine Autorität über die 28 EU-Staaten. Und Deutschland führt auch nicht mehr.
Insgesamt verfestigt sich der Eindruck, dass die EU nur noch eine leere Hülle ist. Der Sondergipfel in Bratislava, der Antworten auf den Brexit geben sollte, hat nichts gelöst, der Zerfall beschleunigt sich.
Siehe auch “Zehn Zeichen für den Zerfall der EU”
niklgramm
24. Oktober 2016 @ 23:26
Paul Magnette ist übrigens auch sonst ein ungewöhnlicher Typ Politiker, nicht nur weil er ein Herr Doktor der Politikwissenschaften ist (Fachgebiet Europa…), sondern weil er auch sehr geläufig Niederländisch spricht, was für einen wallonischen Politiker – leider – nicht gerade selbstverständlich ist. Ich habe ihn vor einigen Jahren im flämischen Fernsehen gesehen, er diskutierte da mit einer Runde stramm rechtsgerichteter Politiker aus Flandern (andere gibt’s da kaum), er blieb absolut sachlich, war stringent in seiner Argumentation, kam auch in der anderen Sprache nicht ins Stottern, und das alles, obwohl ihm richtiggehend der Hass der anderen entgegenschlug. Man merkte richtig, wie seinen flämischen Kontrahenten der Kiefer ‘runterklappte, dass sich ein Wallone nicht unterkriegen lässt… Damals war er noch nicht Ministerpräsident, auch noch relativ jung (um die 40) – aber ich dachte da schon, dass er wirklich sehr talentiert ist. Mal seh’n, wie lange er jetzt durchhält!
Andreas M.
24. Oktober 2016 @ 15:58
@ebo So ist es. Im Übrigen ist Magnette ein Politiker, wie man ihn eigentlich nur wünschen kann. Hätten wir mehr Politiker dieser Sorte, so hätten wir vermutlich weniger Politikverdrossenheit. Siehe z.B. in der Pressekonferenz mit Schulz, oder in Artikeln von LeSoir oder Le Monde: Magnette ist sehr diplomatisch, drückt sich sehr sachlich aus und verzichtet gänzlich auf Anschuldigungen und Polemik. Er kommt direkt auf den Punkt ohne Floskeln und Metaphern. Es besteht kein Zweifel, dass er und sein Team sich eingehend mit der komplizierten CETA-Problematik auseinandergesetzt haben. Magnette macht letztendlich genau die Arbeit, die eigentlich alle Bürger von seriösen Politikern erwarten. Aber dass die führenden Politiker in Europa ihre eigene Agenda verfolgen ist ja nicht neu: die Durchsetzung einer neoliberalen Agenda ist der rote Faden der Krisenpolitik. Gemeinwohl, die europäische Idee, die soziale Absicherung, und vor allem die sehr wichtige Frage der Umverteilung (seit 2008 dramatisch von unten nach oben) werden massiv ausgeblendet und durch eine andere Narrative ersetzt (die faulen Südländer, Staatsschuldenkrise anstelle Bankenkrise, etc.). Insofern ist CETA – und die jetzige Blockade – schlicht ein weiteres Zeichen (und Studienobjekt) der dramatischen Mängel der technokratischen und undemokratischen Strukturen der EU. Es ist auch ein Studienobjekt, weil wieder einmal deutlich wird, wie die Medien den Elitendiskurs übernehmen und integrieren. Wieder einmal sieht man, dass die meisten Journalisten sich nicht – wie es eigentlich sein sollte – auf ihren Hosenboden setzen und sauber recherchieren, denn sonst hätten letztere schnell herausgefunden, dass die EU-Kommission ihre “Hausaufgaben” nicht gemacht hatte: das belgische Parlament kam in der Planung der Termine schlicht nicht vor. So kommt es, dass die Wallonie Europa eine Lektion in Demokratie erteilt. Dafür müssen wir dankbar sein! Aber diese quasi heroische Tat (siehe den Druck auf Magnette durch Politik und Presse) wird nicht ausreichen, um Änderungen herbeizuführen. Dieses Europa ist offensichtlich am Ende. Selbst für den weniger versierten Laien müsste dies deutlich sein: der Grossteil der Kosten der Bankenrettungen wird von den Bürgern in Irland, Spanien, Griechenland und auch Portugal getragen. Hohe Arbeitslosigkeit und Anstieg der Armut durch gnadenlose Austeritätspolitik in diesen Ländern (“Austerität tötet”). Europas Banken sind weitestgehend Pleite (NPLs). Kommission und nationale Finanzminister zeigen kein Interesse für Alternativen zu der massiven Umverteilung von unten nach oben. Dem Steurdumping der internat. Konzerne und Reichen (Panama Papers) wird kaum begegnet. Es gibt einen Binnenmarkt und Freihandel aber keine Steuergerechtigkeit. Dabei zeigen Untersuchungen, dass jährlich über hundert Billionen Euro (!) verloren gehen. Ebenso zeigen Studien, dass die “oberen 20%” dringend höher besteuert werden müssten (vgl. die erwähnte Umverteilung von unten nach oben, welche sich seit 2008 durch die Bankenrettung massiv beschleunigt hat). Bei Umverteilung, Gemeinwohl und Gerechtigkeit hat diese EU einen blinden Fleck. Wir alle spüren dies und dies ist der Grund, warum die Mehrheit meiner europäischen Mitbürger kein Vertrauen mehr in DIESES Europa hat. Wir alle spüren, dass diese EU hauptsächlich den Lobbys von Grosskonzernen, Autokonzernen und Finanzinstituten dient. Schlechte Voraussetzungen, um die Verhandlung von Abkommen wie CETA – mit weitreichenden Folgen für unsere Zukunft – in den Händen jener zu lassen (gemeint ist das Team der Kommission), die die Krise nur auf Kosten von Gemeinwohl und Gerechtigkeit eindämmen konnten. Und sollen genau diese Technokraten über Schiedsgerichte und Probleme der Globalisierung entscheiden können? Wir wissen, dass sie das nicht im Sinne des Gemeinwohls können – es wird ja bekanntlich weiter auf einem neoliberalen Kurs gefahren – demselben, der in den nächsten Jahren die EU begraben wird. Politiker wie Magnette sind eine kleine Hoffnung!
niklgramm
24. Oktober 2016 @ 13:19
Ich verstehe gar nicht, warum das “Entgleisen” von CETA ein Zeichen für den Zerfall der EU sein sollte. Es wäre doch viel schlimmer für Europa, wenn diese transatlantischen Verträge unterzeichnet würden! Magnette gibt mir ein ganz klein wenig Hoffnung, dass EU-Europa vielleicht doch nicht bloß der willfährige Erfüllungsgehilfe der Konzerne sein könnte.
ebo
24. Oktober 2016 @ 13:50
@Niklgramm Nein, der Flop bei CETA ist kein Zeichen für den Zerfall. Die Unfähigkeit der EU, ihre Handelspolitik mehrheitsfähig zu machen und auf die Bedenken der Bürger zu reagieren, ist ein solches Zeichen.