Die „Unwilligen“ übernehmen
Ein Unglück kommt selten allein: Nur eine Woche nach dem Brexit übernimmt nun mit der Slowakei auch noch ein Land den EU-Vorsitz, das in der Flüchtlingskrise zu den „Unwilligen“ zählte.
Diese Erinnerung will Premier Fico aber schnell vergessen machen: Sein Land werde eine „positive Agenda“ verfolgen, sagte der Sozialdemokrat, der in Deutschland als Rechtsradikaler gelten könnte.
Damit meint er offenbar, dass sich die EU auf Dinge konzentrieren soll, die funktionieren und alle einen. Alles andere – z.B. die Umverteilung von Flüchtlingen – will die Slowakei ruhen lassen.
Das könnte auch die Türkei zu spüren bekommen. Jedenfalls sagte der slowakische Außenminister, es gebe in der EU „keinen Konsens“ für die Fortsetzung der laufenden Beitrittsgespräche.
Das hindert die EU-Kommisson freilich nicht, die Verhandlungen voranzutreiben. Ein Kapitel wurde gerade eröffnet, fünf weitere sollen folgen. „Weiter so“, heißt es in Brüssel – „Stop“ in Bratislava.
By the way, die „Brexiteers“ waren auch gegen die laufende Annäherung an die Türkei. Aber egal, sie haben nichts mehr zu melden, der Kurs wird jetzt ohnehin in Berlin vorgegeben…
Peter Nemschak
2. Juli 2016 @ 09:36
@S.B. Es gibt Verhaltensweisen von Nationalstaaten, die in der Geschichte durchaus konstant sind, weil Nationalstaaten sich eben wie Nationalstaaten verhalten. Das wird gerne vergessen, und daran hat auch die EU bisher nichts ändern können. In den 1950-igern und bis in die 1980-iger Jahre hätten wenige an der Sinnhaftigkeit der allgemeinen Wehrpflicht und an der Notwendigkeit eines entsprechenden Verteidigungsbudgets gezweifelt. Heute reden die Leute von „Kriegsbudget“. Vielleicht ist die EU daran mitschuld, weil sie eine lange Friedensperiode ermöglicht hat. Man wird den Eindruck nicht los, dass wir heute in einer wohlstandsverwahrlosten, wehleidigen Gesellschaft leben, die Angst vor relativem Status- und Wohlstandsverlust in der Welt hat. Wo sind die Zeiten als die „Dritte Welt“ noch die „Dritte Welt“ weit hinter unserem Horizont war und die „Zweite Welt“ ein durch Stacheldraht gesicherter Exportmarkt, der unsere Arbeitsplätze gesichert hat? Blicken Sie einmal auf den langen Schatten der Geschichte !
Skyjumper
2. Juli 2016 @ 13:14
„Man wird den Eindruck nicht los, dass wir heute in einer wohlstandsverwahrlosten, wehleidigen Gesellschaft leben, die Angst vor relativem Status- und Wohlstandsverlust in der Welt hat…………………………..Blicken Sie einmal auf den langen Schatten der Geschichte !“
Den Eindruck dass wir (als Gesamtgesellschaft) auf sehr hohen Niveau jammern teile ich ja noch mit Ihnen. Aber wo bleibt der von Ihnen angemahnte Blick auf die langen Schatten der Geschichte bei Ihnen?
Wollen Sie bei diesen Blick wirklich nicht erkennen wo die gewalttätigsten Phasen der Nationalstaaten lagen? Wenn Sie wirklich einen langen Blick zurückwerfen werden Sie nicht umhinkommen zu erkennen, dass jegliche Form menschlicher Organisationsformen sich grob in 3 Phasen untergliedern lässt:
a) Aufbau-/Bildungsphase (meist ziemlich gewalttätig)
b) Konsolidierungs-/Bestandsphase (meist überwiegend ruhig)
c) Zusammenbruch der alten Ordnung (von ruhig bis gewaltsam ist alles dabei)
Weiterhin kann man bei einem langen Blick in die Geschichte erkennen, dass die Organisationsformen des Zusammenlebens tendenziell immer größer wurden. Aus Stadtstaaten wurden Republiken, aus Republiken wurden Nationalstaaten. Und die europäischen Nationalstaaten haben ihre Phase des Konkurrenzringens um ihren Platz und ihre Stellung in Europa hinter sich gebracht.
Für mich stellt es sich so dar, dass wir derzeit im Übergangsbereich einer ruhigen Phase „c“ nationalstaatlich geprägter Organisation leben, hin zu deutlich erkennbaren Anteilen (EU) der Phase „a“ zu einer nächstgrößeren Organisationsform. Es sind immer die Umbruchphasen in denen ein größeres Risiko für Gewaltausbrüche besteht.
Ein Blick in die Geschichte ist hilfreich. Nur kann man die Geschichte eben sehr unterschiedlich analysieren wenn es darum geht das Heute und die Zukunft zu bewerten. Mein Eindruck lässt sich zusammenfassen mit: „Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis.“ Denn ich vermag keinen zwingenden Grund zu erkennen warum wir uns in eine risikostärkere Übergangsphase begeben (haben).
kaush
1. Juli 2016 @ 09:59
@ebo
Ich habe das auch als Ironie wahrgenommen.
kaush
1. Juli 2016 @ 09:17
Oh, ein neuer diffamierender Kampfbegriff: „Unwillige“. Toll…
ebo
1. Juli 2016 @ 09:25
@kaush Wieso neu? Der wurde schon vor einem Jahr geprägt, in der Flüchtlingskrise. Ich setzte ihn übrigens in Anführungszeichen, Ironie…
Peter Nemschak
1. Juli 2016 @ 08:59
Die Zeit, dass Europa endlich erwachsen werden muss, ist gekommen. Zwar sieht es derzeit noch nicht danach aus, aber es wird der Gemeinschaft nicht erspart bleiben. Es ist, wie die jüngsten Ereignisse in Großbritannien gezeigt haben, zu gefährlich, das demokratische Europa spätpubertären und schrulligen Politakteuren auszuliefern. Die Kommission muss personell neu aufgestellt werden in einer Zeit, in der der EU-Vorsitz wenig integratives Profil hat. Deutschland wird nicht umhin kommen, die Führungsrolle in Europa zu übernehmen, nicht nur im europäischen sondern im wohlverstandenen eigenen nationalen Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse. Seine geografische Mittellage in Europa und offene Wirtschaft zur Welt lässt dem Land keine überzeugendere Alternative. Allerdings muss diese Führung mit Augenmaß, ohne Überheblichkeit und Besserwissertum erfolgen und kann sich dabei keine groben Fehler erlauben.
S.B.
1. Juli 2016 @ 10:04
@Peter Nemschak: „Deutschland wird nicht umhin kommen, die Führungsrolle in Europa zu übernehmen, nicht nur im europäischen sondern im wohlverstandenen eigenen nationalen Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse. Seine geografische Mittellage in Europa und offene Wirtschaft zur Welt lässt dem Land keine überzeugendere Alternative.“
Deutschland war vor der EU und Schengen viel sicherer und wirtschaftlich mindestens genauso gut aufgestellt. Insbesondere die Exportindustrie konnte ohne EU und Euro nicht maßlos in der Form auf Kredit wirtschaften, wie sie es jetzt tut, da der deutsche Steuermichel für sie per Taget II-Salden haftet.
Ihr Alternativlos-Szenario ist daher meiner Ansicht nach eine grobe Fehleinschätzung. Es gibt keinen Grund, warum D in Europa eine „Führungsrolle“ übernehmen sollte. Wen soll es denn warum wohin führen?
Peter Nemschak
1. Juli 2016 @ 16:12
Sicherer aufgestellt? Wenn dem so wäre, hätte es wahrscheinlich keinen Ersten Weltkrieg mit allen Folgen gegeben. Sie unterschätzen die Wirkung der Geografie auf die Sicherheitsinteressen von Staaten. Wir sind durch die langen Friedensjahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg verwöhnt. Das Gedächtnis von Staaten ist ihre Geschichte. Die Erfolge der europäischen Integration haben die Geschichte der europäischen Staaten und ihre Dynamik in Vergessenheit gerückt.
S.B.
1. Juli 2016 @ 16:54
Wir reden hier nicht von der Zeitvor dem ersten und zweiten Weltkrieg, sondern von der Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur nach dem zweiten Weltkrieg bis Anfang der Neunzigerjahre, als die EU anfing, sich in die Richtung zu entwickeln, wie sie heute ist. Dieser Vor-EU-Zustand war klar der bessere im oben genannten Sinne.
Skyjumper
1. Juli 2016 @ 11:17
„Die Zeit, dass Europa endlich erwachsen werden muss, ist gekommen. Zwar sieht es derzeit noch nicht danach aus, aber es wird der Gemeinschaft nicht erspart bleiben.“
Europa muss zum Glück gar nichts. Europa ist ein Kontinent und ist einfach. Übrigens ein Kontinent auf dem ausser der EU noch ein paar andere politische Gebilde ihren Platz haben, nicht zuletzt Russland.
Wer etwas „muss“, ist die EU. Nämlich die Maske abnehmen hinter der sich die EU seit den Lissabon-Verträgen verbirgt. So zu tun als könnten innerhalb der EU weiterhin Nationalstaaten existieren. Denn das ist nicht der Fall. So wie die EU sich versteht, sich verstehen will, kann die EU nur als Vereinigte Staaten von Europa überhaupt funktionieren. Kein subsidiäres Prinzip mit Nationalstaaten die naturgemäß ihre eigenen Interessen haben: Nein: Ein Zentralstaat und das war‘s. Den kann, und müßte man, demokratischer gestalten und aufbauen als es derzeit der Fall ist, aber eine funktionstüchtige Alternative dazu gibt es aus EU-Sicht faktisch nicht.
Genau das ist die anstehende Wahl: Ein Zentralstaat namens EU, oder eine Rückabwicklung der EU auf die Grundlagen der EWG. Bisher haben sich die Politiker gescheut diese Wahl überhaupt erkennbar werden zu lassen, geschweige denn sie zu treffen und durch den Souverän legitimieren zu lassen. Diese Wahl ist allerdings tatsächlich einmal etwas wirklich alternativloses, wenn man wieder zu einen funktionierenden politischen System im geografischen Bereich der EU kommen will. Der aktuell bestehende Aufbau vereinigt in sich das schlechteste aus beiden Varianten und wird nie funktionieren, weil es gar nicht funktionieren kann. Die Hindernisse und Probleme sind systemisch.
Und wenn diese Maske endlich mal fällt, und sie fängt gerade an zu rutschen, dann wird es interessant wie sich die Nationalstaaten auf politischer Ebene und auf der Ebene der Bevölkerungen entscheiden werden. Beide Möglichkeiten haben Vor- und Nachteile.
Meine persönliche Entscheidung habe ich bereits getroffen: Ich möchte keine Vereinigten Staaten von Europa. Und wann immer ich bei einer Wahl ein Kreuz machen muss werde ich das dafür erforderliche ankreuzen. Alles andere hat für mich mittlerweile eine nachgelagerte Bedeutung.
S.B.
1. Juli 2016 @ 08:52
„Damit meint er offenbar, dass sich die EU auf Dinge konzentrieren soll, die funktionieren und alle einen. Alles andere – z.B. die Umverteilung von Flüchtlingen – will die Slowakei ruhen lassen.“
Wenn Fico das so meint, bin ich ganz bei ihm. Länder treffen sich, genauso wie Menschen da, wo sie gleiche Interessen haben, die u.a. auch auf gleichen Werten beruhen können. Die „überzeugten“ oder wahlweise auch „glühenden“ Europäer, welche die EU steuern, haben diesen Grundsatz leider längst beiseite geschoben. Sie versuchen auch in den Bereichen, in denen keine Interessengleichheit besteht, alle EU-Mitgliedsstaaten in Gesamthaftung für ihre Vereinigte Staaten von Europa-Ideologie zu nehmen, ggf. sogar per Zwangsmaßnahmen. Das ist aber gerade nicht Sinn der EU, die nur ein Staatenbund ist. Deshalb stiftet die EU so viel Unruhe und Unfrieden zwischen ihren Mitgliedern.