Keine Zeit für Demokratie
Das Europaparlament hat die neue EU-Kommission bestätigt – trotz eklatanter Fehlbesetzungen und ungelöster Interessenkonflikte. Die meisten Abgeordneten hatten keine andere Wahl: Sie stehen unter Druck einer doppelten großen Koalition – in Brüssel und Berlin.
Schön war’s, das Demokratie-Experiment in der EU. Es fing, fast unmerklich, im Herbst 2013 an – als sich SPD-Politiker M. Schulz zum ersten „Spitzenkandidaten“ küren ließ.
EUropa braucht eine andere Politik, hieß sein Motto. Die Zeit der Hinterzimmer sei vorbei, jetzt übernehmen die Bürger das Kommando. Selbst die konservative EVP von Kanzlerin Merkel machte mit.
Ein Jahr später ist alles vorbei. Schulz hat verloren, Wahlsieger Juncker wird von einer großen Koalition getragen, die – über die deutschen Abgeordneten – von der GroKo in Berlin beeinflusst (dominiert?) wird.
Und die doppelte GroKo hat es eilig. Schon am 1. November soll die Juncker-Kommission die Arbeit aufnehmen. Deshalb wurde sogar eine offenkundig nicht qualifizierte Esoterikerin durchgewunken.
Transparenz? Fehlanzeige. Demokratische Kontrolle? Zeitverschwendung. Die Rochade Bulc/Sevcovic wurde im Hinterzimmer ausgekungelt, von einer anderen Politik ist keine Rede mehr.
Und von den zahlreichen Fehlbesetzungen in Junckers „Dreamteam“ auch nicht. Um sie zu korrigieren, hätte man sich mit den großen EU-Ländern anlegen müssen – das hat Juncker nicht gewagt.
Und das EU-Parlament hat es nicht gewagt, Juncker zu zeigen, wer der Souverän ist. Ohne Not schließt es die Parenthese der Demokratie. Selbst die GroKo in Berlin hat sich mehr Zeit genommen…
P.S. Der neue EU-Ratspräsdient Tusk tritt sein Amt übrigens erst am 1.12. an. Zumindest so lange hätte das EU-Parlament sein demokratisches Kontrollrecht noch ausüben können! Zur neuen EU-Kommission siehe auch hier und hier sowie meine aktuelle Umfrage
Marcus Schenkelberg
22. Oktober 2014 @ 11:04
Guter Kommentar. Doch was soll der Satz: „Ohne Not schließt es die Parenthese der Demokratie.“ Wirkt ein wenig gekünstelt oder affektiert oder manieristisch.
Marcel
22. Oktober 2014 @ 10:31
Da freut man sich doch auf die nächste Wahl. Wenn wir viel Glück haben, dann werden die Parteien im rechten Rand gewählt und zwar mit einer Mehrheit. Das wäre der Erfolg der bisherigen EU-Politik der letzen Jahre.
Peter Nemschak
22. Oktober 2014 @ 10:02
Klubzwang, und sei er ein informeller, gibt es nicht nur im Europäischen Parlament, sondern in vielen nationalen Demokratien. Den meisten Bürgern ist es egal, da ihr Verhältnis zum Europäischen Parlament ohnehin viel loser als zu ihrem eigenen nationalen Parlament ist. Insgesamt ist die Politikverdrossenheit groß, wobei die Vorteile einer parlamentarischen Demokratie, wie wir sie in Europa kennen, als selbstverständlich hingenommen werden.