Die Erdogan-Versteher

Die EU-Kommission ignoriert die Forderung des Europaparlaments, die Türkei-Verhandlungen einzufrieren. Kommissionschef Juncker ist nicht allein: Auch Kanzlerin Merkel und Brexit-Clown Johnson geben die Erdogan-Versteher.


[dropcap]I[/dropcap] gewissen Kreisen hat man sich angewöhnt, von den „Putin-Verstehern“ zu sprechen. Wer immer für die Lockerung oder Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland wirbt, wird mit diesem Label verunglimpft.

Wer hingegen behauptet, dass die schlimmste Säuberungswelle der jüngeren Geschichte eine innertürkische Angelegenheit sei und man gut mit Sultan Erdogan zusammenarbeiten könne, findet sich in bester Gesellschaft.

Die Liste der Erdogan-Versteher ist lang und prominent. An erster Stelle steht natürlich Kanzlerin Merkel, die auf die „tolle“ Idee kam, die EU-Beitrittsverhandlungen mit ihrem Flüchtlingsdeal zu koppeln.

Das ist zwar unlogisch und alles andere als zwingend, doch Merkel hält daran auch nach dem (nicht bindenden) Votum des Europaparlaments fest. Der Deal sei im gegenseitigen Interesse, sagte sie gerade.

Wohlgemerkt, sie spricht von Interesse, nicht von Werten – wie es ihre Anhänger immer behaupten. Die „Anführerin des freien Westens“ denkt gar nicht daran, für die Werte im westlichen Bündnis zu kämpfen, dem die Türkei ja auch angehört.

Doch selbst das Interesse, auf das sie sich beruft, ist fragwürdig. Denn es geht ja auch um Merkels persönliches Interesse. Denn wenn der Pakt platzt, ist ihre nächste Kanzlerschaft in Gefahr. Deshalb hält sie in Treue fest zum Sultan.

Etwas luzider, aber auch zynischer präsentiert sich Juncker. Qua Amtes wäre er eigentlich verpflichtet, den Abbruch der  Beitrittsverhandlungen zu empfehlen, da die Türkei alle Grundwerte der EU verletzt.

Doch er hat sich auf Gedeih und Verderb an Merkel gekettet, die nach Ansicht vieler (sogar des Juncker-Vorgängers Prodi) die eigentliche EU-Chefin ist. Und so redet er sich mit abenteuerlichen Vergleichen raus:

„Wir, die Europäische Union, haben Beziehungen zu verabscheuungswürdigen Regimen. Die hinterfragt keiner. Man spricht berechtigterweise über die Türkei, doch man spricht nie über Saudi-Arabien. Wir haben Beziehungen zu allen Diktaturen, weil wir die Welt mitgestalten müssen. “

Das ist purer Zynismus, denn mit Saudi-Arabien führt die EU keine Beitrittsgespräche. Juncker lenkt vom Thema ab – und von seiner eigenen Verantwortung. Zudem begibt er sich in zwielichtige Gesellschaft.

Der größte Fan sitzt in London

Denn der größte Erdogan-Fan ist – wen wundert’s – unser beliebter „Mr. Brexit“, also der britische Außenminister Johnson. Er windet und wendet sich, wie’s gerade passt – Hauptsache, es schadet Brüssel.

Vor dem EU-Referendum hat Johnson mit dem Argument gegen die EU geworben, dass diese die Türkei hereinholen werde, was in einer gigantischen Einwanderungswelle münden würde.

Nun, nach dem Brexit-Votum, macht er sich zum Anwalt Erdogans. Er will dem Sultan nicht nur helfen, sein Land in die EU zu führen. Er hat sogar die mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe verteidigt.

Auf Geschäfte will keiner verzichten

Immerhin hatte ein Europaabgeordneter den Mut, dieses Verhalten als „arrogante Provokation“ zu brandmarken: der CSU-Politiker und Chef der konservativen EVP-Fraktion, M. Weber. Johnson solle sich raushalten, fordert er.

Zu dumm, dass es aber auch in seiner Fraktion Abgeordnete gibt, die zwar die Beitrittsverhandlungen aussetzen wollen, der Türkei aber gleichzeitig eine engere und profitablere Zollunion anbieten.

Die Erdogan-Versteher (und Geschäftemacher) sind überall…