Die dreifach gespaltene “Union”
WATCHLIST EUROPA 15.12.2017 – Angriff ist die beste Verteidigung. Das muss sich wohl Ratspräsident Tusk gedacht haben, als er den EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel eröffnete.
Der liberale Pole war wegen seiner Kritik an bindenden, aber “ineffizienten” Flüchtlingsquoten unter Beschuss geraten. Nun rechtfertigt er sich: Ihm gehe darum, die EU zusammenzuhalten.
“Wenn es um die Währungsunion geht, verläuft die Spaltung zwischen Norden und Süden”, sagte Tusk. “Wenn es um Migration geht, verläuft sie zwischen Ost und West.”
Wohl wahr. Es wurde höchste Zeit, dass einer der EU-Chefs auch mal diese bittere Einsicht ausspricht. Die “Union” ist eine Illusion. Allerdings hat Tusk eine dritte Spaltung vergessen.
Gemeint ist die zwischen den Anhängern des Status Quo – und den Reformern. Zu den Besitzstandwahrern gehören nicht nur Kanzlerin Merkel, sondern auch die Osteuropäer, die im Asylstreit gegen Merkel Front machen.
Polen, Ungarn und Tschechien wollen die Transferunion bewahren, die die EU mit Struktur- und Kohäsionsfonds aufgebaut hat. Sie wollen auch nicht in den Euro, sondern ihre Ruhe haben.
Merkel hingegen will verhindern, dass die längst bestehende Transferunion ausgeweitet wird. Kein wesentlich größeres EU-Budget, kein Euro-Budget, keine Einlagensicherung – so ihre Devise.
Die Reformer werden von Frankreichs Macron angeführt, der die EU neu gründen will. Beim EU-Gipfel wies er Berichte zurück, beim Euro habe er schon aufgegeben. Man müsse Rücksicht auf Merkel nehmen.
Deshalb dürfte es heute beim Euro-Gipfel auch keine Fortschritte geben. Bestenfalls sei mit einem “klaren Arbeitsauftrag” zu rechnen, sagte Budget-Kommissar Oettinger. Doch selbst das ist unsicher.
Denn Merkel steht nicht nur auf der Bremse. Sie nutzt ihre Buddys in Brüssel auch, um der Eurozone ein neues Korsett namens Fiskalpakt anzulegen – und weitere Stolpersteine für die Reformer aufzubauen…
Siehe auch “Perverse Prozesse” und “Braucht man da noch eine Euro-Reform?”
WAS FEHLT? The way forward on Brexit. Die EU-Chefs wollen darüber am Freitag zwar diskutieren. Doch die “Leitlinien” für die Verhandlungen sollen erst im März stehen. Erst dann dürfte auch die zweite Phase der Brexit-Verhandlungen beginnen – dabei hieß es doch bisher immer, man habe keine Zeit zu verlieren…
Siehe auch “Durchbruch! Welcher Durchbruch?
MichaelE
15. Dezember 2017 @ 13:51
“Die Reformer werden von Frankreichs Macron angeführt, der die EU neu gründen will. Beim EU-Gipfel wies er Berichte zurück, beim Euro habe er schon aufgegeben. Man müsse Rücksicht auf Merkel nehmen.”
Na da könnte doch Macron, dieser geniale Reformer, mal damit beginnen die Agragzahlungen der EU anderweitig zu verwenden…Macht er natürlich nicht… da gehört er zu den Besitzsstandswahrern.
Wieso? Weil Frankreich hier der größte Profiteur ist.
Peter Nemschak
15. Dezember 2017 @ 14:15
Eine Agrarreform würde die Glaubwürdigkeit der EU gegenüber Afrika unterstützen. Wie groß ist der Anteil der Bauern an den Wählern in den einzelnen Ländern der EU?
Kleopatra
16. Dezember 2017 @ 13:41
Die entscheidende Frage ist nicht die nach dem Anteil der Bauern an der Wählerschaft. Wie hoch ist der Anteil der Bauern an der japanischen Bevölkerung? Und doch machen sie eine recht protektionistische Agrarpolitik. Freilich kann ich mir vorstellen, dass sich die ältere Generation auch noch an Hungerzeiten im Krieg erinnert, und sich deshalb nicht darauf verlassen möchte, dass ihnen mmer jemand Essen gegen Geld verkaufen wird. Die entscheidende Frage ist also, wieviele Wähler Wert auf eine einheimische (und am besten noch ökologischen Anforderungen genügende …) Landwirtschaft legen. Das dürften auch in hochindustrialisierten Ländern recht viele sein. Schon die oberflächlichste Beobachtung des Lebensmittelmarktes zeigt, dass die Bewerbung eines Produktes als „inländisch“ zu den häufigsten Werbeaussagen gehört (und das betrifft die meisten europäsichen Länder, die ich kenne).
Peter Nemschak
15. Dezember 2017 @ 13:19
Es gibt eben Länder mit mehr und andere mit weniger Gewicht. Solange auch die kleinen und schwächeren Länder insgesamt von der EU profitieren und besser mit als ohne EU dran sind, sollen sie sich nicht in Einzelfragen wichtig machen und wehleidig den Beleidigten mimen sondern untereinander Koalitionen bilden, wenn sie etwas erreichen und durchsetzen wollen. Es gibt nicht immer Kompromisslösungen.
Kleopatra
16. Dezember 2017 @ 13:35
Unter den “kleinen und schwächeren” Ländern gibt es eine ganze Reihe von soliden Nettozahlern (Luxemburg, Österreich, Niederlande …). Also Vorsicht mit Vorurteilen! Und die Vorstellung, dass alle Mitglieder von der EU materielle Vorteile haben und deshalb (übertrieben formuliert, aber Chirac hat das 2003 über die damaligen Beitrittskandidaten wirklich so gesagt) das Maul halten (und die Großen, d.h. Deutschland und Frankreich machen lassen) sollen, ist – entschuldigen Sie den Ausdruck – aus Sicht der “Kleinen” nackter Imperialismus.
Mehrheitsentscheidungen setzen die Grundannahme voraus, dass die anderen ähnlich sind wie wir und ähnlich “ticken”. Wenn man annimmt, dass zwei Drittel der Gruppe grundsätzlich eine Einstellung haben, man selbst aber zum restlichen Drittel gehört, wird man Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren können, denn man wird immer majorisiert. (Aus guten Gründen, und im Zweifel aus ähnlichen Überlegungen, überlässt zum Beispiel die Grundrechtecharta der EU die Entscheidung darüber, wie eine “Ehe” zu definieren ist, das heißt auch, ob gleichgeschlechtliche Ehen möglich sind, ausdrücklich der Entscheidung der Einzelstaaten).
Wenn es überhaupt Mehrheitsentscheidungen geben soll, muss strikt definiert sein, wie diese formal durchgeführt werden, und welche Gebiete davon betroffen sind. Bis Herbst 2015 herrschte mehr oder weniger Einigkeit darüber, dass Migration ein Themenbereich war, der nicht per Mehrheit im Rat entschieden werden durfe. Insofern ist nachvollziehbar, dass sich die osteuropäischen Staaten hier handstreichartig überfallen vorgekommen sind. Wie hektisch der Beschluss (im Zweifel auf Betreiben des deutschen Innenministers) durchgepeitscht wurde, kann man daran sehen, dass schriftliche Unterlagen zur Beschlussfassung auf Slowakisch und Ungarisch nicht rechtzeitig vorgelegt wurden (möglicherweise auch in andere Sprachen nicht). Auch wenn der EuGH das nicht als Grund für die Ungültigkeit des Beschlusses anerkannt hat, hat die Mehrheit des Rates damit ihre Verachtung für “kleine und schwache” Mitglieder demonstriert.
Peter Nemschak
15. Dezember 2017 @ 09:47
Die von Ihnen erwähnte Gleichheit war nie Geschäftsprinzip der EU. Größere Länder hatten im Rat stets mehr Stimmen als kleine, als das Prinzip qualifizierter Mehrheiten eingeführt wurde. Daher müssen die Kleinen Koalitionen bilden. Das Einstimmigkeitsprinzip ist angesichts der zahlreichen Mitglieder nicht mehr praktikabel. Auf EU-Ebene gilt nicht: one woman bzw. one man-one vote. Die Weigerung bestimmter Osteuropäer bei der automatischen Aufteilung von Flüchtlingen könnte dazu beitragen, dass die EU auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine Obergrenze einzieht und diese auch nach außen kommuniziert. Ohne kohärente Migrations- und Entwicklungspolitik, welche das Prinzip der Obergrenze inkludiert, wird es keine Lösung geben. Ad hoc Teillösungen sind nicht durchsetzbar.
Kleopatra
15. Dezember 2017 @ 12:26
Für die Meinung „Das Einstimmigkeitsprinzip ist angesichts der zahlreichen Mitglieder nicht mehr praktikabel.“ mag es gute Gründe geben. Allerdings ist das Problem, wenn man informell entscheidet, auch den einen oder anderen überstimmen zu wollen, dass dann leicht individuell entschieden wird, auf wen man Rücksicht nimmt. Beispiel: Wenn der Verfassungsvertrag nicht in Frankreich und den Niederlanden, sondern z.B. in Bulgarien und Rumänien abgelehnt (und sonst akzeptiert) worden wäre, hätte man sicher versucht, diese beiden Staaten aus der EU zu mobben. Aber niemand würde Frankreich herausmobben wollen, während bei Großbritannien die Präferenzen schon gespalten sind etc. Sobald man einzelne Partner auch überstimmen will, braucht man fixe formale Regeln, nicht wie gegenwärtig, wo man ad hoc zu Mehrheitsentscheidungen greift, wenn einhellige Zustimmung nicht zu erzielen ist (dafür war gerade der Flüchtlingsbeschluss ein Beispiel).
Mehrheitsbeschlüsse, die dann einen oder mehrere als Unterlegen dastehen lassen, sind in einer Gemeinschaft, wo man immer wieder auf allseitige Kooperation angewiesen ist, grundsätzlich problematisch. Und ich habe nicht den Eindruck, dass Publizisten, die von Mehrheistentscheidungen schwärmen, bereit wären, ein Überstimmen Deutschlands einfach zu akzeptieren. Was wäre, wenn eine Mehrheit des Rates für ein brutales Abweisungsregime im Mittelmeer stimmen würde? (Die Zögerlichkeit bei der „Umsiedlung von Flüchtlingen“ spricht dafür, dass eine ehrliche Abstimmung so ausfallen müsste).
Kleopatra
15. Dezember 2017 @ 07:58
Die Struktur- und Kohäsionsfonds sind als Voraussetzung, damit der Binnenmarkt halbwegs erträglich funktionieren kann, unerlässlich. Außerdem kosten sie relativ wenig (ich erinnere an das klassische Argument der EU-Freunde, wie wenig Beiträge die EU bekommt).
Im Vergleich damit sind die Folgekosten für Merkels Feigheit vor der Presse und die daraus folgende Weigerung, die Massenmogration entschieden zu bekämpfen, sehr viel kostspieliger.
Was die Spaltung zwischen Ost und West in der Migrationsfrage betrifft, hat seinerzeit der französische Ministerpräsident in aller wünschenswerten Deutlichkeit gesagt, dass Frankreich nicht mehr als 30000 Personen aus der Flüchtlingswele von 2015 ins Land lassen wolle und könne. Und Großbritannien hat in dem berüchtigten Beschluss vom September 2015 überhaupt eine Quote von Null zugeteilt bekommen. Da fragt man sich, warum eigentlich der eine (GB) seinen Willen bekommen hat und einige andere (Visegrád) nicht? Indem der Beschluss den Osteuropäern demonstriert hat, dass sie “weniger gleich sind als andere”, hat er unnötig böses Blut geschaffen.