Unabhängigkeit? Nein, danke!

Deutschland und die EU wollen weiter mit den USA und ihren Geheimdiensten zusammenarbeiten. In Berlin hat die Große Koalition eine Art Treueschwur abgelegt, in Brüssel macht die EU-Kommission weiter, als sei nichts geschehen. Damit verpasst Europa eine historische Chance.

Die Gelegenheit ist mit Händen zu greifen. Jeden Tag kommen neue Details über die Spionage des US-Geheimdienstes NSA und seiner britischen Vasallen ans Tageslicht.

Erst waren es nur die EU-Gebäude in Washington, die ausgespäht wurden. Dann kamen das Handy der Kanzlerin und das Regierungsviertel hinzu. Jetzt wurden sogar die Briten in Berlin ertappt.

In Deutschland ist die Empörung auf dem Höhepunkt. 51 Promis aus Politik und Kultur fordern Asyl für den Whisteblower Snowden. Er ist derzeit wohl populärer als der Papst.

Auch in der EU ist die Lage günstig. Heute will Parlamentspräsident Schulz offiziell den Europawahlkampf eröffnen – mit seiner Spitzenkandidatur für die europäischen Sozis. Eins der zentralen Themen wird die US-Spionage sein.

Das Europaparlament hat bereits die Aussetzung des Swift-Abkommens über die Bankdaten gefordert. Viele Abgeordnete würden nicht zögern, auch die Freihandelsrunde mit den USA abzublasen, um den Druck zu erhöhen.

Zudem bieten die Briten eine willkommene Angriffsfläche. Seit bekannt wurde, dass sie Brüssel und nun auch Berlin ausspähen, könnte, ja müsste die EU gegen diesen eklatanten Vertrauensbruch vorgehen.

Doch die Stunde der Unabhängigkeits-Erklärung, wie es Justizkommissarin Reding pathetisch nennt, wird nicht kommen. Kommissionschef Barroso und Kanzlerin Merkel haben anders entschieden, das Rollback ist schon im Gange.

Bereits im Juli hatten beide in Berlin die Weichen für die Freihandelsrunde gestellt – dabei hatte Merkel da offenbar schon Anzeichen, dass ihr Handy abgehört wurde. Sie tauschte es aus – und machte weiter, als sei nichts gewesen.

Beim EU-Gipfel Ende Oktober folgte der zweite Streich: Mitten in der Merkelhandy-Affäre, die vor allem ein mediales Theater war, bekannten sich die Chefs zur Geheimdienstzusammenarbeit mit den USA.

Was jetzt kommt, ist eigentlich nur noch Vollzug: Merkel verpflichtet die GroKo auf die Treue zu Amerika, Barroso setzt neue Freihandelsgespräche an dem Tag an, da der Westen das Ende des 1. Weltkriegs (und den Sieg über das Reich) feiert.

Vielleicht ist es aber auch mehr, viel mehr: eine Abhängigkeits-Erklärung der EU gegenüber den USA, ein endgültiger und dauerhafter Verzicht auf die überfällige Emanzipation der Europäer aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Muss man noch nachtragen, dass Barroso und Merkel in Treue fest zu Bush junior standen, als es um den Irak-Krieg ging? Und dass beide alles tun, um den britischen Premier Cameron bei der Stange zu halten?

Siehe zu diesem Thema auch “Ein neues Narrativ?”. Damals habe ich noch auf eine Wende gehofft… Und dann ist da noch meine aktuelle Umfrage!