Des-Integration, Teil 4
Beginnt mit dem Brexit die Des-Integration, also der Zerfall der EU? In Teil 4 der Sommerserie geht es um die Bürger, die sich immer mehr von dieser Union abwenden – obwohl sie Europa schätzen.
[dropcap]F[/dropcap]rankreich, die Niederlande, Irland, Griechenland, wieder die Niederlande, UK: So sieht die Negativ-Bilanz der EU in den letzten Jahren aus. Jede Volksabstimmung wurde verloren, egal zu welchem Thema.
Dennoch brüsten sich die EU-Politiker mit den immer noch hohen Zustimmungswerten ihres “Eurobarometers”. “Privat zufrieden, politisch frustriert”, fasst SPON die jüngste Umfrage zusammen.
Schuld daran sollen die Nationalstaaten sein, nicht die EU. Noch mehr spitzt es die “Zeit” zu: EUropa mache alles richtig, auch die Eliten machten einen guten Job. “Europa braucht bessere Bürger”, so das Fazit.
Tja, wenn sie könnten, würden die EU-Eliten lieber heute als morgen ein neues Volk wählen. Da das geht nicht geht, spielen sie auch mit dem Gedanken, Abstimmungen zu EU-Themen zu verbieten.
Doch das würde auch nichts an der Misere beenden. Sie besteht darin, dass die EU ihre beiden großen Versprechen – Friede und Wohlstand für alle – nicht mehr einlöst. Die Bürger merken das und wenden sich ab.
Spätestens seit Eurokrise und Ukraine-Umsturz ist die EU Teil des Problems, stehen Nord gegen Süd, Ost gegen West. EUropa eint nicht mehr, es spaltet, wie wir zuletzt in Griechenland gesehen haben.
In Griechenland hat sich allerdings auch gezeigt, dass die Bürger zögern, wenn sie vor die unmögliche Wahl gestellt werden, eine gescheiterte Politik fortzusetzen oder die EU bzw. den Euro zu verlassen.
Sie wollen eine andere Politik in einem anderen Europa, aber keinen erzwungenen Ausstieg, keinen nationalen Alleingang. Zu dumm, dass diese andere Politik in Brüssel nicht im Angebot ist.
Sie wäre nicht im Interesse der europäischen Eliten, vermute ich. Die sind zwar auch zerstritten – doch eine Abkehr vom neoliberalen Kurs und vom Ancien Régime, das wollen sie auf keinen Fall.
Selbst wenn die Briten für den Ausstieg aus der EU stimmen, soll, ja darf sich nichts ändern…
mister-ede
12. August 2016 @ 10:15
Edmund Stoiber – ja genau der – hat zur Frage von Volksabstimmungen in der EU letzthin einen Satz gesagt, den er mir wohl aus meinem Kopf geklaut haben muss.
Sinngemäß: Volksentscheide auch zu den ganz zentralen Fragen seien sinnvoll, dann müssten die Politiker endlich auch wieder für ihre Sache werben und überzeugen.
Das ist genau meine Haltung. Ich will keine Volksabstimmung über Nebensächlichkeiten, aber kann mir das gut für zentrale Punkte (Euro-Einführung, EU-Erweiterung, Vertragsänderungen) vorstellen. Bei meinen Vorschlag für eine Europäische Föderation sind solche Elemente daher auch zentral.
davonfreizusein
11. August 2016 @ 13:14
So wichtig diese wirtschaftlichen, finanzpolitischen oder sicherheitlichen Probleme auch sind – ich vermisse Ideen für die weitere europäische Integration. Und zwar nicht die institutionelle, sondern die praktische alltägliche. Hierbei ist die Sprachenvielfalt in Europa ein beträchtliches Hindernis.
Wir brauchen deshalb neben unseren Muttersprachen eine gemeinsame europäische Sprache. Dies ist Voraussetzung für die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit ebenso wie für europäische Mobilität und ein alltägliches Mit- statt nur Nebeneinander. Mehr dazu auf meinem Blog davonfreizusein.wordpress.com.
kaush
9. August 2016 @ 06:44
“Die Totengräber Europas”
Von Arno Luik
Datum: 03.08.2016
“Das Volk ist das Problem, nicht die Elite. So sagt es der Bundespräsident, so denken und handeln viele Politiker. Sie opfern das Soziale dem Gott der Ökonomie und begraben damit ein Europa, das einst “Wohlstand für die Völker” (Adenauer) bringen sollte. Ein Essay. ”
(…)
“…Ist diese EU noch zu retten, noch zu reformieren? Mit diesem Personal? Etwa mit dem EU-Chef Jean-Claude Juncker? Ein Apparatschick, der in einem unwürdigen Machtpoker mit Hilfe der Kanzlerin Angela Merkel ins Amt gehievt worden ist. 24 Jahre lang war er in Luxemburg in der Regierung, erst als Finanzminister, dann als Ministerpräsident. In seiner Heimat galt Juncker als skrupelloser Strippenzieher, bevor er schließlich als Regierungschef stürzte und zurücktreten musste – wegen der Affären. Da ging es um unaufgeklärte Bombenanschläge, Gesinnungsschnüffelei bis hin zur Überwachung von Greenpeace; und darum, warum er von vielen Untaten wusste, aber weder Justiz noch Parlament informierte.
Als Juncker EU-Kommissionspräsident, als er das wichtigste Gesicht Europas wurde, 2014, wurde bekannt, dass sein Land in seiner Amtszeit komplizierte und fragwürdige Steuerabkommen mit mehr als 300 internationalen Konzernen abgeschlossen hatte, etwa mit Apple, Amazon, Eon, Ikea. Mit Juncker als Paten, so kann man es sagen, wurde das Großherzogtum zur Steueroase, zum Schlaraffenland für Konzerne – auch auf Kosten seiner Nachbarländer. Kann so einer, was dringend nötig wäre, sich für eine gerechtere Verteilung der Globalisierungsgewinne innerhalb der EU einsetzen?
Dass Juncker das wichtigste Gesicht Europas ist –. Vor dem Brexit-Votum sagte er den britischen Wählern: “Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen.” Der Wähler – ein Deserteur, wenn er anders wählt, als es sich Spitzenpolitiker vorstellen? Der Deserteur gilt in jeder Armee der Welt als Verbrecher. Wer von der Fahne geht, macht sich strafbar, und im Krieg wird dem Deserteur oft kurzer Prozess gemacht: Er wird erschossen. Was für ein Vergleich! Wer so spricht, wer so denkt, zeigt denen, die wählen sollen, dass er ihnen die Wahlfreiheit vorenthalten will.
Das ist das Problem. Diese Geisteshaltung ist das Problem. Sie zerstört die europäische Idee…”
http://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/279/die-totengraeber-europas-3791.html
Treffend beschrieben von Arno Luik!
hyperlokal
8. August 2016 @ 21:03
Nun ja, solche intellektuell bescheidene Artikelchen wie die von dem Alexander Görlach oder dem Hendrik Müller zeigen zumindest eines: die Eliten kriegen langsam die Muffe, aber sie begreifen partout das eigentliche Problem nicht. Da sind sie wieder einmal total begriffsstutzig.
Kann ja sein, dass viele Bürger sich heute Handys leisten können und damit Pokemon spielen dürfen und die EU alles für die Bürger tut, um die Roaming-Gebühren im Ausland zu senken. Aber warum sollten letztere so anspruchslos sein, sich damit zufrieden zu geben?
Seit den 60er Jahren muss ein EU-Bürger viermal mehr als nötig arbeiten um sich den Lebensstandard von damals leisten zu können. Wie komme ich darauf?
Die Produktivität hat sich seither verdoppelt (etwas mehr als 1% Steigerung pro Jahr kann jeder mit Taschenrechner ausrechnen:l Zinseszinsformel). Aber jetzt müssen zwei Eheleute arbeiten um sich einen jährlichen Urlaub leisten zu können. In den 60’ern war das nur der Ehemann. Das macht also zusammen den Faktor 4!
Und darauf bilden sich die EU-Eliten was ein? Kommt gar nicht in die Tüte! Der EU-Bürger möchte genauso am Fortschritt partizipieren, wie sie. Und das bedeutet dann rechnerisch, dass die oberen 10 Prozent ihren jetzigen Lebenstandard halbieren müssen, damit die restlichen 90 Prozent ihren verdoppeln können. So Pi mal Daumen geschätzt. Eine Untersuchung der Reichtumsentwicklung seit damals wird diese Schätzung mit ziemlicher Sicherheit bestätigen.
Nur so wird ein gerechter Schuh draus. Daruinter machen wir Bürger es nicht mehr. Es ist letztendlich nur eine simple Verteilungsfrage. Erst wenn die genau so (!) gelöst wird, sind wir nicht mehr grumpy. Und wir werden noch a lot of much more grumpy. Darauf können die EU-Eliten ihren Allerwertesten verwetten. Da kann der Hendrik Müller sich die Griffel wundschreiben, soviel er mag.
Peter Nemschak
9. August 2016 @ 15:26
Damals waren die Urlaubsansprüche hinsichtlich Reiseziel und Komfort vor Ort bescheidener als heute.
Skyjumper
8. August 2016 @ 20:39
@ Peter Nemschak
Entschuldigung an alle an anderen, dass dieser Beitrag nichts mit dem Artikel zu tun hat.
Vielleicht interessiert Sie ja mal ein Buch dass sich mit den Fragen zur von Ihnen so hochgelobten parlamentarischen Demokratie beschäftigt und dabei einige durchaus bemerkenswerte Schlußfolgerungen und Empfehlungen zieht.
Ich finde den Titel etwas missverständlich, und ich stimme auch nicht mit allem überein was Reybrouck an Thesen aufstellt. Aber lesenswert und im Ergebnis eine nachdenkenswerte Alternative zum Wahlsystem.
David Van Reybrouck “Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist”, Wallsteinverlag
Peter Nemschak
9. August 2016 @ 15:25
Die Herausforderung scheint mir zu sein, das richtige Verhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie zu finden. Über die Frage, ob europäischer Bundesstaat oder Bund souveräner Staaten könnte man die Bürger abstimmen lassen. Schwieriger wird es bei Fragen, ob und unter welchen Bedingungen der Euro Ausstiegsmöglichkeiten bieten soll, und ob es einen Solidaritätszuschlag auf die nationale Einkommensteuer für Zuwanderern geben soll und wie hoch dieser in jedem Land sein soll.
hlschmid
9. August 2016 @ 16:33
“Über die Frage, ob europäischer Bundesstaat oder Bund souveräner Staaten könnte man die Bürger abstimmen lassen.” – Genau: z.B. auf http://www.our-new-europe.eu !
Skyjumper
9. August 2016 @ 20:48
@ Peter Nemschak
Da haben Sie sicher recht mit. Die Ausgewogenheit ist wie immer der wirklich schwierige Part. Reybrouck unterstützt übrigens NICHT die direkte Demokratie, schlägt aber vor die repräsentative Demokratie ziemlich drastisch abzuwandeln.
S.B.
8. August 2016 @ 19:57
“EUropa eint nicht mehr, es spaltet, wie wir zuletzt in Griechenland gesehen haben.”
Mit einem Satz ist alles zu diesem Eliten-Projekt gesagt, was es (nur) noch zu sagen gibt. Wer macht endlich das Licht aus?
Skyjumper
8. August 2016 @ 20:46
Sie sind da eindeutig zu optimistisch. Folgenden Satz aus dem Beitrag
“Tja, wenn sie könnten, würden die EU-Eliten lieber heute als morgen ein neues Volk wählen. Da das nicht geht, ………”
könnte man auch fortsetzen mit:
” …….. importieren sich die EU-Eliten gerade ein neues Volk aus anderen Ländern.”
S.B.
9. August 2016 @ 09:27
@Skyjumper: Ich hoffe und gehe auch fest davon aus, dass es, bevor die EU-Eliten sich ihr neues Volk aus anderen Ländern im quantitativ ausreichenden Maß hereingeholt haben, zum Crash kommt. Das wird zwar für uns alle sehr ungemütlich, aber insbesondere auch für “unsere” Eliten. Schaun mer mal…