Des-Integration, Teil 3
Beginnt mit dem Brexit die Des-Integration, also der Zerfall der EU? In Teil 3 der Sommerserie soll es um den Streit innerhalb der EU-Institutionen und der Eliten gehen, die die Union (noch) tragen.
[dropcap]A[/dropcap]uf der Ebene der Staaten ist die Des-Integration bereits weit fortgeschritten. Sie trifft nicht nur UK, sondern auch Griechenland, Italien, Österreich und die Türkei, von der sich die EU abhängig gemacht hat.
Aber wie sieht es im Innern der EU-Maschine aus? Läuft es wenigstens dort noch rund? Die Antwort heißt Nein. Sowohl innerhalb der Brüsseler Institutionen als auch in den EU-Eliten herrscht Streit.
In Brüssel liegen vor allem die EU-Kommission und der Ministerrat, also die Vertretung der EU-Staaten, im Dauerclinch. Zuletzt stritten sie sich darüber, wer den Brexit aushandeln darf.
Aber auch um Griechenland und die Euro-Reform ist ein Machtkampf entbrannt. Die EU-Kommission wollte Athen entgegenkommen und die Währungsunion schnell “vollenden”.
In beiden Fragen stellte sich Deutschland quer. 2015 hätte dies beinahe zum Rauswurf Griechenlands aus dem Euro und damit zum (teilweisen) Zerfall der Währungsunion geführt.
Auch die die Institutionen tragenden EU-Eliten sind schwer zerstritten. Dies gilt neuerdings sogar für die GroKo in Berlin, wo die SPD ein Ende des CDU-geführten Austeritätskurses fordert.
Es gilt aber auch für die Eliten in Paris, Berlin und Warschau, die einst den “deutsch-französischen Motor” und das “Weimarer Dreieck” bildeten. Davon ist nicht mehr viel übrig.
Letztlich ist kaum noch Kompromiss- und Einigungswille vorhanden. Die nationalen Eliten gehen eigene (Sonder-)Wege (vor allem in Osteuropa), die EU-Institutionen laufen ins Leere.
Die Des-Integration ist also nicht nur eine äußere Erscheinung, die einzelne Staaten trifft. Sie hat EUropa im Innersten erfasst, auch deshalb wirkt Kommissionschef Juncker zunehmend verloren…
Teil1 und 2 dieser Serie stehen hier und hier
Winston
3. August 2016 @ 00:52
Nemschak
Hochmut kommt vor dem Pfosten.
Peter Nemschak
3. August 2016 @ 09:14
Welchen Hochmut meinen Sie? Setzen Sie Produktivität und eine effiziente Verwaltung mit Hochmut gleich? Sehen Sie es einmal von der anderen Seite. Niemand hindert die Defizitländer mehr zu exportieren. Haben Sie schon einmal überlegt, warum sich die Produkte der Defizitländer sich nicht zu einem höheren Preis verkaufen lasen? Die Lohnsteigerungen in Deutschland waren in letzter Zeit durchaus beachtlich verglichen mit anderen EU-Ländern. Trotzdem gibt es Handelsbilanzüberschüsse auch mit Drittländern.
Winston
3. August 2016 @ 00:30
Mittlerweile notiert das deutsche Leistungsbilanzsaldo bei 8,8% und geht gen 9% zu.
Erlaubt sind 6%. Aber darüber redet niemand. Schweigen im Walde. Obwohl bereits diese 6% ein Witz sind. die müssten eigentlich bei 3% notieren.
Wieso das die anderen Euro Staaten zulassen, allen voran Frankreich und Italien ist mir schleierhaft.
Es ist völlig klar das ein solches Konstrukt nicht funktionieren kann.
Das ganze nennt sich auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Beggar-thy-Neighbor-Politik
Skyjumper
3. August 2016 @ 11:45
@Winston
Ich stimme Ihnen zwar grundsätzlich zu dass der abstruse Aussenhandelsüberschuss ein Fehler ist und vor allem auch Deutschland nicht wirklich zum Vorteil gereicht.
Hinsichtlich der 6 % Grenze irren Sie allerdings, bzw. haben Sie meines Wissens nach nur einen Kernfaktor berücksichtigt. Wenn ich es richtig erinnere bezieht sich die Formulierung der EU-Regularien (was ja auch Sinn macht) auf den Handelssaldo eines EU-Landes gegenüber den anderen EU-Mitgliedern. Und nach Zahlen 2014 hatte DE dort Importe von 600 Mrd.€ denen Exporte von 670 Mrd.€ gegenüberstanden. Also ein Überschuss von 70 Mrd., bzw. ~ 2,2 % des BIP.
Die 3%-Grenze gibt es übrigens auch. Sie gilt dann als Grenzwert wenn ein Land nicht nur einen Leistungsbilanzüberschuss generiert, sondern ausserdem einen negativen Staatshaushalt aufweist.
Das Italien nicht großartig meckert ist eigentlich klar, denn da ist der Saldo nicht so wahnsinnig groß. Mit Frankreich wiederum ist der Saldo so dermaßen groß (36 Mrd. €), dass Frankreich daran gar nichts ändern möchte. Denn die Importe aus Frankreich wachsen Jahr für Jahr moderat, aber umgekehrt sind Frankreichs Importe aus Deutschland seit Euroeinführung sprunghaft angestiegen. Frankreich könnte heute leider nicht mehr ohne weiteres auf diese Importe verzichten da der Anstieg Hand in Hand mit einem Abbau der franz. Industrie einherging.
Winston
3. August 2016 @ 00:02
GS
Die französischen Konservativen sind pro euro wie Hollande. Juppè ist noch schlimmer als Holland.
FN ist die einzige die ein referendum abhalten will.
GS
2. August 2016 @ 18:14
@ebo
Für wie wahrscheinlich hältst Du es, dass die französischen Konservativen im kommenden Wahlkampf ein Referendum über die EU versprechen?
ebo
2. August 2016 @ 20:48
@GS Ist bisher kein Thema bei Sarko & Co. Ich halte es auch nicht für wahrscheinlich.
S.B.
2. August 2016 @ 09:40
@bluecrystal7:
“Das hat übrigens nichts, aber auch gar nichts, mit Euro-Skeptizismus oder gar Europa-Feindschaft zu tun.” – Was denn bitteschön sonst? Es ist ein interessanter und vor allem sonderbarer Kunstgriff, wenn zwar die Realität zutreffend beschrieben wird, aber die entsprechende Schlussfolgerung aus ideologischen Gründen mit der Begründung verweigert wird, dass es doch eigentlich viel schöner sein sollte. Man nennt das auch Realitätsverweigerung.
“Klar, vor allem am rechten Rand gibt es sie auch, die eingefleischten Europa-Gegner, die vor allem, was sich außerhalb ihrer vier Wände befindet, Angst haben und am liebsten eine kleine, übersichtliche Welt hätten, in der selbst sie sich zurechtfinden.” – Da haben Sie sich aber eine schöne Erklärung zurechtkonstruiert: Alle Europa-Gegner sind rechts und deswegen ängstlich. Wahrscheinlich tritt auch nie einer von “diesen Rechten” jemals vor die eigene Haustür. Gut, dass es moderne Home-Offices mit Internetanschluss gibt. Ach ne, vorm Internet haben “diese Rechten” bestimmt auch Angst. Das reicht ja bis weit vor die eigene Haustür. 😉
“Wünsche werden unerfüllt bleiben. Der weitaus größere Teil der Europäer träumt stattdessen von einem gemeinsamen, einem schönen, einem starken Europa.” – “Die Europäer” gibt es nicht. Dafür sind die europäischen Völker viel zu heterogen. Ich kenne auch niemanden, der von “einem gemeinsamen, einem schönen, einem starken Europa” träumt. Das ist eine reine Utopie bzw. Phantasterei der sozialistischen Internationale. Was bitte soll das konkret sein?
“Und es sieht auch ganz und gar nicht danach aus, als ob die europäischen Eliten den „Schuss gehört hätten“ und nun ernsthaft darüber nachdenken, wie man ein neues, ein besserer Europa aufbauen könnte.” – Das versteht sich von selbst. Denn die europäischen “Eliten”, die aus Sicht von Otto-Normal-Bürger allesamt einer Negativauslese entspringen, sind Vasallen ihrer neoliberalen Handler, die das wirkliche Geschehen bestimmen. Und diese bestimmen im Interesse der globalisierten Wirtschaft, also der internationalen Großkonzerne. Von dieser Seite braucht also niemand auf Besserung zu hoffen.
bluecrystal7
2. August 2016 @ 04:49
Passend dazu gab es kurz nach dem Brexit-Votum mal einen schönen Artikel der NachDenkSeiten:
“Aber schauen wir uns das real existierende Europa doch einmal an: Brüssels Freihandelswahn führt heute schon dazu, dass ein heimisches Lammkotelett in einem Supermarkt auf den Shetland-Inseln teurer angeboten werden muss, als sein Tiefkühlpendant vom anderen Ende der Welt aus Neuseeland. Und wenn die Bürger einer kleinen Gemeinde am griechischen Kallidromo einen neuen Kühlschrank für das Dorfgemeinschaftshaus brauchen, kann es sein, dass der Anschaffungsprozess an Haushaltsvorgaben scheitert, die im fernen Berlin beschlossen wurden. Dafür kann heute ein Computer von Dell im polnischen Lodz gebaut und auf Rechnung von Amazon Luxemburg in jeden europäischen Haushalt geliefert werden, ohne dass die Multis dafür ordentliche Steuern bezahlen und ohne dass die Mitarbeiter angemessen bezahlt würden. EU-Subventionen und der Wegfall von Möglichkeiten, die heimischen Märkte zu beschützen, sorgen dafür, dass riesige Agrarkonzerne sich in Brandenburg auch noch die letzte Scholle unter den Nagel reißen, während der Kleinbauer in Kroatien sich am nächsten Baum aufhängen kann. Das ist das real existierende Europa und genau das ist das Europa, das die Menschen nicht mehr haben wollen.
Das hat übrigens nichts, aber auch gar nichts, mit Euro-Skeptizismus oder gar Europa-Feindschaft zu tun. Klar, vor allem am rechten Rand gibt es sie auch, die eingefleischten Europa-Gegner, die vor allem, was sich außerhalb ihrer vier Wände befindet, Angst haben und am liebsten eine kleine, übersichtliche Welt hätten, in der selbst sie sich zurechtfinden. Diese Wünsche werden unerfüllt bleiben. Der weitaus größere Teil der Europäer träumt stattdessen von einem gemeinsamen, einem schönen, einem starken Europa. Doch dieses ideale Europa hat nichts mit dem real existierenden Europa zu tun. Juncker steht nicht für dieses Europa. Schulz steht nicht für dieses Europa. Das Europa, das Juncker und Schulz haben wollen, ist nicht das Europa, das die Europäer haben wollen. Und es sieht auch ganz und gar nicht danach aus, als ob die europäischen Eliten den „Schuss gehört hätten“ und nun ernsthaft darüber nachdenken, wie man ein neues, ein besserer Europa aufbauen könnte.”
http://www.nachdenkseiten.de/?p=34106
Skyjumper
2. August 2016 @ 17:38
So ein wenig schräg ist das schon was Sie da von den Nachdenkseiten zitiert haben. Erinnert so ein bißchen daran zu sagen:
“Also es ist völlig scheisse dass die Blätter dieses Baumes mir im Sommer die Sonne wegnehmen. Und im Herbst erst dieser Dreck wenn die runterfallen. Im Winter deprimiert mich der kahle Anblick der Äste und wegen der vielen Wurzeln heben sich meine Terrassenplatten was mich soviel Geld gekostet hat das ich nicht mehr in den Urlaub fahren kann. Aber das hat natürlich alles nichts mit dem Baum zu tun. Der ist toll und muss bleiben. Nur eben ein bißchen anders. Ohne Blätter, ohne Äste und ohne Wurzeln und vielleicht einem etwas dünnerem Stamm.”
Skyjumper
1. August 2016 @ 15:01
Des-Integration ist meiner Beobachtung nach tatsächlich eine relativ alte Angelegenheit innerhalb der EU, und insoweit nichts neues. Sie wird allerdings zunehmend augenscheinlich, also öffentlich.
Das hat wie ich meine 3 Gründe:
1) die bereits von @Peter Nemschak angesprochene zunehmende Heterogenität der in der EU zusammengeschlossenen Staaten. Ein Miteinander von Niederlanden und Frankreich z.B. ist nun einmal einfacher als Ungarn und Belgien.
2) die öffentliche Diskussion über die Unstimmigkeiten. Was früher unter Ausschluß der Öffentlichkeit im kleinen Kreis diskutiert wurde erfordert heute schon rein organisatorisch ein größeres Bohei mit entsprechender öffentlicher Wirkung
3) die “einfachen” Integrationsfelder sind abgegrast. Alles was nun (versucht) angegangen wird ist bereits von der Materie her deutlich ambivalenter und birgt entsprechendes Konfliktpotential
Dennoch ist diese nun sichtbar werdende Des-Integration kein Grund zur Beunruhigung der EU-Gläubigen. Denn letztlich handelt es sich bei der EU um ein mehr oder weniger gut getarntes Machtinstrument. Und für die Teilhabe an der Macht waren Politiker bereits zu allen Zeiten bereit auch über den eigenen Schatten zu springen. Gerade die kleineren Länder, wie Österreich, Dänemark oder Irland z.B., werden kaum aus der EU aussteigen solange sich keine andere brauchbare Alternative bietet.
Die EU wird wahrscheinlich unter keinen echten Existenzdruck kommen solange niemand auf die Idee kommt (und heimlich vorantreibt) ein Wirtschaftsbündnis z.B. der Nord- und Ostseeanrainerstaaten zu betreiben. Das wäre aus meiner Sicht höchst sinnvoll und würde anschließend eine Mitgliedschaft in der EU entbehrlich erscheinen lassen. Aber eben erst dann.
Peter Nemschak
1. August 2016 @ 15:26
Es muss nicht notwendigerweise ein formales Wirtschaftsbündnis alternativ zur EU geben, aber durchaus wahrscheinlich, dass sich manche Staaten stärker integrieren als andere. So manches, was EU-weit nicht erreichbar ist, wird sich in regionalem Rahmen aus geübter Praxis entwickeln.
Skyjumper
1. August 2016 @ 17:36
@Peter Nemschak
Das könnte man tatsächlich so sehen, bzw. pragmatisch handhaben. Jedoch glaube ich nicht dass dies funktionieren würde, denn es gibt da einen Schönheitsfehler Namens “EU-Institutionen”.
Die von Ihnen skizzierte pragmatische Herangehensweise ignoriert die EU-Institutionen notwendigerweise weitgehend bzw. macht sie entbehrlich, was bei denen selbstverständlich nicht gut ankommt und auf Widerstand stossen wird. Daraus resultieren ja bereits heute eine ganze Reihe von Streitigkeiten bis hin zu den berühmt-berüchtigten Vertragsverletzungsverfahren.
Ohne eine Negierung der EU-Institutionen würden diese Reiberein ein stetes Ärgernis und Sand im Getriebe des Vorankommens sein. Eine Negierung der Institutionen andererseits würde einer Auflösung der EU gleichkommen. Ein Geist ist nun einmal leichter aus der Flasche heraus, als wieder hinein zu bekommen.
Das Handlungsprinzip der brüsseler EU das sich im Laufe der Jahre herauskristallisiert hat ist (entgegen den Verträgen) ein zentralistisches und kein subsidiäres. Ihre Lösung funktioniert daher nur aus der Sicht der nationalen Staatsregierungen/Parlamente, nicht aber aus Sicht der EU-Regierung/Parlaments.
S.B.
1. August 2016 @ 13:53
“Die nationalen Eliten gehen eigene (Sonder-)Wege (vor allem in Osteuropa), die EU-Institutionen laufen ins Leere.”
Ich würde insoweit nicht so sehr, auf jeden Fall aber nicht nur, auf Osteuropa abstellen wollen. Gerade D ist doch seit September 2015 in der Flüchtlingskrise auf einem ganz speziellem Sonderweg unter Brechung jeglichen nationalen und europäischen (Asyl-) Rechts. Zuvor das Gleiche in Sachen Energiewende. Und das alles völlig unabgesprochen mit den EU-“Partnern”.
ebo
1. August 2016 @ 14:22
S.B. Völlig richtig. Die deutschen Alleingänge sind hier allerdings Dauerthema – Stichwort “deutsches Europa”!
Peter Nemschak
1. August 2016 @ 15:11
Es läge an den anderen sich gegen deutsche Alleingänge effektiver zu wehren. Warum tun sie es nicht? Auf der anderen Seite erwarten die anderen, dass Deutschland voran geht. In Zukunft wird es insgesamt mehr eigene Wege der Mitgliedsländer geben, etwas was die Bürger ohnedies wollen. Brüssler Zentralismus kommt nicht gut an.
S.B.
1. August 2016 @ 15:22
@ebo: Es ist aber kein “deutsches Europa”, denn jedes EU-Mitgliedsland geht bei Bedarf seinen eigenen Sonderweg, wie Sie im Artikel richtig angemerkt haben. Es macht eben jeder da, wo es ihm wichtig erscheint, also in den essenziellen Sachverhalten, sein eigenes Ding. Im Grunde ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Der genaue Beobachter kommt daher zu dem Ergebnis: Die EU braucht es nicht.
bluecrystal7
2. August 2016 @ 04:41
Zumindest im Bezug auf die Sparpolitik oder den chronisch hohen Handelsbilanzüberschuss den Deutschland hat, kann man vom “deutschen Europa” sprechen.
Peter Nemschak
1. August 2016 @ 11:04
Die seit den 1990-iger Jahren erfolgten Erweiterungsrunden sind auf Kosten der Vertiefung der Integration erfolgt, weil die Heterogenität der Gemeinschaft, vor allem durch das Hinzukommen mittel- und osteuropäischer Staaten gewachsen ist. Die Unterschiede wirtschaftlicher Entwicklung sind heute größer als vor 25 Jahren. Zum traditionellen Nord-/Südgefälle ist ein West-/Ostgefälle hinzugekommen, das trotz anfänglicher Euphorie der Angleichung noch lange bestehen wird. Auf Grund der bestehenden Verflechtungen wird die EU als Staatenverbund voraussichtlich bestehen bleiben, aber die einzelnen Teile werden unterschiedliche Integrationsgrade aufweisen und weiter entwickeln. Der Euro gehört dringend reformiert und mit einer Austrittsoption versehen, will er Bestand haben. Eine Weltmacht Europa auf Augenhöhe mit den USA, China und Russland wird es so bald nicht geben.