Des-Integration, Teil 1
Beginnt mit dem Brexit die Des-Integration, also der Zerfall der EU? Dieser Frage will ich in meiner Sommerserie nachgehen. Greifen wir zunächst einen Blogpost vom April auf: „Drei Tests, ob die EU scheitert.“
[dropcap]A[/dropcap]b Juni muss die EU insgesamt drei kritische Hürden nehmen, wenn sie nicht zerbrechen will, hieß es damals in diesem Blog. Zitat:
- Das Brexit-Referendum. Für die Abstimmung Ende Juni wurde sogar der EU-Gipfel verschoben. Doch es hilft nichts: Premier Cameron ist schwer angeschlagen, das Brexit-Lager feiert den „Sieg“ in Holland.
- Das Erdogan-Ultimatum. Ebenfalls Ende Juni soll die versprochene Visa-Liberalisierung für die Türkei kommen. Wenn dies nicht geschehe, werde Merkels Flüchtlingsdeal hinfällig, warnt der Sultan.
- Die IWF-Drohung. Der Fonds fordert einen Schuldenschnitt in Griechenland. Da Merkel dies ablehnt, erwägt der IWF, den Streit in den Sommer zu verschleppen – am Ende könnte der Grexit stehen.
Drei Monate später fällt die Bilanz ernüchternd aus.
- Das Brexit-Referendum ging verloren, die EU hat sich immer noch nicht von dem Schock erholt und reagiert hilflos auf die Nominierung der neuen britischen Regierung.
- Das Erdogan-Ultimatum ist folgenlos verstrichen, einen neuen Termin für die Visa-Liberalisierung gibt es nicht. Allerdings verliert die EU auch auf die Türkei an Einfluss; nach dem Putsch(versuch) ist die Lage unübersichtlich.
- Die IWF-Drohung steht immer noch im Raum. Zwar wurde Griechenland mit drastischen Auflagen und Hilfskrediten über den Sommer gerettet; im Herbst könnte die Krise aber wieder aufleben.
Fazit: Von den drei Crash-Tests hat die EU allenfalls die Flüchtlingskrise einigermassen gemeistert. Die zugrunde liegenden Probleme in Syrien und der Türkei bestehen jedoch fort bzw. spitzen sich zu.
Die Des-Integration hat mit UK begonnen, auch wenn sie noch nicht sichtbar ist. Sie könnte aber manchen verleiten, „reinen Tisch“ zu machen und auch Griechenland zum Exit zu drängen…
mister-ede
18. Juli 2016 @ 12:32
Ich sehe es einen Tick anders. Die EU hat meines Erachtens zahlreiche Probleme in ihrer Struktur. Diese bleiben vorhanden, selbst wenn die EU alle „Bewährungsproben“ besteht. Scheitert die EU hingegen an diesen Hürden, wie beim Brexit, dann führt das nur dazu, dass die Probleme und Fehlkonstruktionen sehr deutlich werden.
Die EU muss sich deshalb reformieren – unabhängig der genannten Bewährungsproben.
S.B.
18. Juli 2016 @ 11:35
„Von den drei Crash-Tests hat die EU allenfalls die Flüchtlingskrise einigermassen gemeistert.“
Was hat denn die EU insoweit gemeistert? Die Flüchtlingskrise, die in Form der Massenmigration von Frau Merkel verursacht wurde, fand und findet hauptsächlich nach D statt. Sie wurde folgerichtig zuvorderst von D gemeistert, wenn man das überhaupt so ausdrücken will.* Die restlichen EU-Länder haben sich vornehm zurückgehalten oder Fehlanreize beseitigt, was ihr gutes Recht ist. Die EU an sich aber hat gar nichts gemeistert. Insbesondere ist sie an der quotenmäßigen Verteilung gescheitert, der einzigen Maßnahme, die sie in Angriff genommen hat. Alle anderen Maßnahmen wurden national durchgeführt, insbesondere die Abriegelung der Balkanroute.
* Zum deutschen „Meistern“: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/hannelore-kraft-zu-fluechtlingen-ich-bin-froh-dass-die-grenzen-dicht-sind-a-1103448.html
mister-ede
18. Juli 2016 @ 12:29
Gut, die EU hat zum Schutz der Außengrenzen die Zusammenarbeit mit der Türkei verstärkt, die im März 2016 in einem EU-Türkei-Abkommen mündete. Im Rahmen des Europäischen-Asylsystems wurde die Anwendung von Eurodac, dem gemeinsamen Registrierungssystems für Flüchtlinge, vorangebracht und im Rahmen des neuen Schengener Grenzkodex wurden gemeinsame Standards zur Grenzsicherung festgeschrieben. Auch Frontex wurde jüngst gestärkt und eine EU-Verordnung zum Asyl ist in Vorbereitung.
Aber ansonsten hat die EU natürlich sehr wenig gemacht, gerade wo sie so viel Unterstützung aus den Mitgliedsstaaten erfahren hat.
Peter Nemschak
18. Juli 2016 @ 13:11
Im Gegenteil, die nach wie vor ungelöste Flüchtlingsproblematik ist das größte Risiko für den Zusammenhalt der EU. Der Vertrag mit der Türkei kann, ungeachtet der jüngsten Ereignisse, nur eine Zwischenlösung sein. Eine geordnete, aber zahlenmäßig beschränkte Migration und entsprechende Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, welche von den Geldüberweisungen der Migranten profitieren sowie gezielte projektbezogene Entwicklungshilfe wären zumindest ein Mittel, den Migrantenstrom einzubremsen. Die jährliche Zuwanderung nach Europa muss begrenzt werden. Auch müssen Voraussetzungen definiert werden, die ein Zuwanderungswilliger nach Europa erfüllen muss, um legal einwandern zu können.
Peter Nemschak
18. Juli 2016 @ 11:34
ad 1) Warum hilflos? Die EU sitzt am längeren Ast. Je mehr sich das UK durch spezielle Freihandelsabkommen von der EU entfernt, desto schwieriger wird sein Zugang zum Binnenmarkt. Kann ein EU-Mitglied rechtlich überhaupt bilaterale Handelsabkommen mit einem Drittland schließen, ohne gegen Kompetenzen der EU zu verstoßen? Wenn nicht, muss es Sanktionen geben. Die Zeit arbeitet für die EU, so ferne die Regierenden ein differenzierteres nicht mit mehr Europa verwechseln.
ad2) Es wäre höchst an der Zeit, wie Österreichs Außenminister wiederholt eingemahnt hat, endlich eine Alternative zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu entwickeln. Die Türkei wird nach allem, was passiert ist, wirtschaftlich den Sprung in ein Industrieland nicht schaffen und als „middle income“ – Entwicklungsland in Zukunft kein vollwertiger und verlässlicher Partner für die EU sein, selbst wenn Erdogan verschwinden sollte. Daher sind weitere Beitrittsverhandlungen Zeitverschwendung. Gegenüber der Türkei sollte die EU eine gemeinsame Haltung mit den USA einnehmen.
ad3) Das Risiko, dass Griechenland möglicherweise nicht im Euro zu halten sein wird, ist nicht neu. Auf Grund seiner relativen Kleinheit sollten die Auswirkungen eines GREXIT überschaubar bleiben. Das kleine Entwicklungsland am Rande Europas würde danach Mitgliedsland mit eigener Währung bleiben. Ein Austritt aus der EU wäre weder für Griechenland noch die EU eine sinnvolle Option.
All das ist für jene die mehr Europa wollen, nicht angenehm, aber noch kein Grund, dass die EU zwingend auseinanderfallen muss. Dazu sind die wirtschaftlichen Vorteile der Integration zu groß. Es wird ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Wahlmöglichkeiten geben. Ist das so schlecht? Das – eine lockerere EU, verbunden mit einer Kernunion – will doch die Mehrheit der Bürger. Die Menschen wollen keine Zwangsbeglückung. Sonst wäre die Unzufriedenheit mit den heute Regierenden und der Zulauf zu den Rechtspopulisten nicht so groß.