Das kommt mir spanisch vor
Die Krise um den katalanischen Separatisten Puigdemont spitzt sich zu. Die spanische Staatsanwaltschaft fordert einen europäischen Haftbefehl, die belgische Regierung duckt sich weg, die EU versagt.
Mir kommt das spanisch vor. Da flüchtet ein demokratisch gewählter Regionalpolitiker nach Brüssel, um im „Herzen Europas“ Zeugnis abzulegen – und einem Gerichtsverfahren in Madrid zu entgehen.
Doch weder die EU-Kommission noch die belgische Regierung beziehen Stellung. Sie verweigern Puigdemont das Recht, in öffentlichen Gebäuden zu reden, und tun so, als ginge sie sein Fall nichts an.
Klar, dahinter steht die Angst, Ärger mit Spanien zu bekommen. Die EU will sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischen, die belgische Regierung fürchtet eine diplomatische Krise.
Doch die legitimen Interessen Spaniens sind eine Sache. Eine andere Sache ist es, einen demokratisch gewählten Politiker, der sich zu Unrecht verfolgt fühlt, mitten in EUropa allein im Regen stehen zu lassen.
Die EU schützt jeden Bürger, der sich in seinen Grundfreiheiten verletzt fühlt. Wenn es um EU-Recht geht, geht sie sogar rigoros gegen Mitgliedsstaaten vor. Aber hier? Nichts! Mir kommt das spanisch vor…
Siehe auch „Schweigen im Herzen Europas“
Peter Nemschak
3. November 2017 @ 13:35
@ebo Die Zeit für politische Lösungen wird kommen. Zuerst braucht es Neuwahlen in Katalonien. Man wird sehen, wie stark der Separatismus überhaupt ist und ob nicht der Schwanz mit dem Hund wackelt.
Hella-Maria Schier
3. November 2017 @ 00:34
Die EU hatte tatsächlich schon weniger Respekt vor Mitgliedsstaaten, wenn man da etwa an Griechenland denkt. Was bindet sie so an Rajoy? Das wäre schon mal interessant zu wissen, was es da für Interessensverbandelungen geben mag. Er ist absolut ungeeignet, diese Krise zu lösen, da er anscheinend noch ein unbeirrbarer Anhänger der Idee eines einheitlichen (d.H. kastilischen) Spaniens ist. Spanien müsste endlich einen radikalen Schnitt zur Franco-Vergangenheit machen!
Was haben die Franzosen eigentlich anders gemacht, denn die dortigen Nordkatalanen wollen ja nicht weg aus Frankreich?
Sie nehmen zwar an folkloristischen Katalanentreffen teil, scheinen aber im Alltag französisch zu sprechen und pflegen keine Sezessionsträume von Frankreich, obwohl dieses sie in der Geschichte nicht besser behandelt haben soll als Spanien die Südkatalanen. Das liegt nur viel länger zurück als die Franco-Zeit, und vielleicht ist das der Grund. Es wäre ein Hinweis darauf, dass die Wurzeln der jetzigen katalanischen Rebellion (vom finanziellen Thema abgesehen) tatsächlich in der neueren, der Geschichte des 20 Jh. zu suchen sind.
Katalonien hatte übrigens zwar immer eine eigene Kultur und Sprache, war aber nie ein eigenes Königreich. Es gehörte als Fürstentum zur Krone von Aragón, der großen Nachbarregion, bevor dieses sich im 15Jh. mit Kastilien vereinigte.
Einmal als ich mit dem Wohnmobil durch Katalonien unterwegs war, hielten wir um meinen Foto-Akku richtig aufzuladen in einer alten Stadt namens Cervera, die viel mit Kataloniens demokratischen Traditionen zu tun hat. Das Gebäude in dem wir eine freie Steckdose erhofften, erwies sich als hypermodernes katalanisches Kulturcenter, welches Besuchern aus der ganzen Welt die katalanische Nation näherbringen sollte. Groß, schick, Multimedia in etlichen Sprachen. Aber total leer! Niemand schien sich groß dafür zu interessieren, zumal die Region von den landschaftlichen Highlights des Meeres und der Berge um einiges entfernt liegt.
Das war schon seltsam. Nur an der Rezeption am Eingang saß ein etwa 18jähriger Junge und langweilte sich offensichtlich. Froh, dass mal jemand kam, führte er uns gleich in den Vorführraum und wir kamen bequem sitzend und ganz unentgeltlich in den Genuss einer technisch beeindruckenden und hoch dramatischen Präsentation von Kataloniens ruhmvoller Geschichte als Vorreiter der Demokratie. Auf deutsch! Wir waren beeindruckt, bedankten uns und kauften noch ein Souvenir, da uns der nette Junge in dem leeren Laden irgendwie leid tat und dieser ganze Aufwand etwas wirklich Rührendes hatte. Aber etwas musste ich noch loswerden. Mir war nämlich aufgefallen, dass in der Präsentation kein einziges Mal der Name “Aragón” (Aragonien) gefallen war, so fragte ich den Jungen, ob Katalonien denn nicht ein Teil von Aragón gewesen sei. Diese Reaktion! Er blickte verlegen oder gekränkt nach unten und murmelte widerwillig “Ja”. Ich fühlte mich sofort als typisch deutsche Besserwisserin und ärgerte mich über mich selbst. Wieder zurück in Köln entdeckte ich ein Buch über “Vergessene Königreiche” und fand darin die “Krone von Aragón”, die sich wirklich einst ziemlich mächtig auch außerhalb Spaniens erstreckt hat und Katalonien umfasste. Da stand, dass nicht wenigen Katalanen noch heute das Wort “Aragón” nicht über die Lippen käme, dass manche vermeiden würden, es jemals auszusprechen. So befangen sind die Kölner noch nicht einmal mit Düsseldorf.
Das kommt einem zu Recht spanisch vor und beweist, dass die Katalanen mit ihrer wilden Unabhängigkeitsleidenschaft, ihrer Sturheit, ihrem dramatischen Stolz und der Neigung Träume bis zur Unvernunft zu verfolgen wie ein Don Quijote, durchaus spanische Eigenschaften haben.
Susanne
3. November 2017 @ 00:33
..ist es nicht total verrückt…da zeichnet die Stadt Aachen den Papst mir dem Karlspreis aus, Bob Dylan erhält den Friedensnobelpreis…und die eu macht nichts.
Hey, Mr. Tambourine Man…tritt der eu endlich in den Hintern…und wage es nicht, nach dem voreiligem Missbrauch der Preisvergabe des Friedensnobelpreises an Obama und der eitlen, selbstsüchtigen Preisverleihung des Karlspreises an den Papst durch die Stadt Aachen im narzisstischen Interesse der eu–vertreter in verlogener Haltung um Demokratie, Selbstbestimmung und Menschenwürde weiterhin 500 Millionen Menschen so vorzuführen.
Farbe bekennen: wie steht es um Demokratie…wir müssen um Rechte kämpfen, welche wir uns durch einen schönen Schein sicher fühlten. Die parlamentarische Demokratie richtet die Selbstbestimmung der Völker zu Grunde?
Susanne
2. November 2017 @ 23:11
Vollkommen klar ist mir eine doch sehr simple despotische Haltung des Herrn Rajoy, welcher die Haltung des span. Königshauses wiederspiegelt.
Die eu als solches bleibt nun durch ihr Schweigen als Täter zurück. Sie hätte massivst auf einen Dialog pochen müssen. Jetzt hat Spanien offiziell per Justiz eröffnet, womit man in Politik drohte, ohne den Katalonen ein Gesprächsforum zu bieten. Jetzt soll Justiz, welche die Klage tatsächlich zu ließ, einen Mann ggf. für 30 Jahre ins Gefängnis bringen, weil es dort so was mittelalterliches wie Rebellion mit solch einem Strafmass gibt. Es regt mich so auf, wie die Zustände in der Türkei.
Im Lutherjahr, den gefeierten Rebell der deutschen Kirche, sieht Brüssel über diese Entwicklung hinweg: 30 Jahre Gefängnis….was haben unsere Bayern doch für politischen Gestaltungsspielraum, den man den Katalanen mit grausamen neu-juristischen Deutungen einer europäischen Demokratie nimmt
luciérnaga rebelde
2. November 2017 @ 19:52
Ich möchte keine Vergleiche ziehen, aber immerhin ist 1936 in gewissen Gedächtnissen noch lebendig!
Peter Nemschak
2. November 2017 @ 17:24
Der Rechtsstaat nimmt seinen Lauf. Auch ein demokratisch gewählter Politiker, unabhängig von seiner ideologischen Überzeugung, muss sich an die Verfassung und geltenden Gesetze halten. Sonst wird unsere liberale Demokratie zur Farce und unglaubwürdig. Sichtlich ist manchen auch außerhalb Spaniens die spanische Verfassung ein Dorn im Auge. Die faschistische Vergangenheit löst bei in der Wolle gefärbten Linken nach wie vor allergische Reaktionen aus.
ebo
2. November 2017 @ 18:52
Welcher Rechtsstaat? Gibt es in Deutschland 30 Jahre Haft für „Rebellion“? Hat Puigdemont überhaupt die Unabhängigkeit proklamiert? Experten bezweifeln das. Sie bezweifeln auch, dass die extensive Anwendung von Artikel 155 der spanischen Verfassung – er wurde bis noch nie angewendet – verhältnismäßig ist. Im Übrigen kann Puigdemont auch in Belgien verhört werden, sein belgischer Anwalt kennt sich mit den spanischen Verhältnissen bestens aus…
Kleopatra
2. November 2017 @ 20:37
Der deutsche Verfassungskult hilft bei der Beurteilung von Konflikten in anderen Ländern nicht weiter. Die spanische Verfassung ist ein Kompromiss zwischen der von den einen angestrebten Föderalisierung oder innerstaatlichen Diffferenzierung einerseits und Restbeständen der franquistische Ideologie von der einheitlichen spanischen Nation andererseits. Wie man den Grad an Autonomie einer Region regelt, ist sinnvollerweise eine Frage des politischen Kompromisses und nicht der Exegese eines angeblich heiligen Gesetzestextes. Katalanische Politiker und die zentralen Instanzen hatten vor einigen Jahren bereits ein neues Autonomistatut vereinbart, das wurde allerdings auf Initiative des gegenwärtigen Ministerpräsidenten (damaligen Oppositionsführers) Rajoy vom Verfassungsgericht teilweise kassiert.
Rajoy hat insofern bereits eine fatale Vergangenheit als einer, der Ressentiments der Kastilier gegen die Katalanen schürt, und er ist somit auch schlecht geeignet, die gegenwärtige Krise zu lösen. Der phantasielose Versuch, seine Gegner als politische Verbrecher auszuschalten, kann keine Legitimität schaffen; denn wenn das nächste katalanische Parlament eine Rajoy genehme Mehrheit hätte, weil die Separatisten nicht an der Wahl teilnehmen konnten, ist das nicht mehr wert als eine ernannte Akklamationsversammlung.
ebo
2. November 2017 @ 22:07
@Kleopatra Völlig richtig, Rojoys Legalismus hat ja überhaupt erst in die Krise gefüllt. Sie ist nur mit politischen Mitteln zu lösen, nicht mit juristischen.
Reinard Schmitz
3. November 2017 @ 10:43
Der Herr Nemschak wieder. Mich würden als in der Wolle durch und durch gefärbten Moralisten ein paar Worte von Ihnen ergötzen über Rajoy und seine korrupte Entourage als Bewahrer der hehren spanisch-demokratischen Werte, die im Einklang stehen müssten mit den europäischen und den westlichen überhaupt. Wenn ich Ihr selbstgefälliges „demokratisch gewählt“ lese, dann bin ich felsenfest davon überzeugt, dass Sie nur provozieren wollen. Und das warum erklären am besten auch gleich mit.