Das Drama des überzeugten Europäers

Mitten in der schlimmsten EU-Krise ist ein heftiger Streit zwischen überzeugten Europäern und Euroskeptikern entbrannt. In der “Zeit” werfen sich der Europaabgeordnete D. Cohn-Bendit und der Soziologe U. Beck auf der einen und Politikchef B. Ulrich auf der anderen Seite vor, die Europa-Idee zu missbrauchen. “Wir sind keine Ideologen, wir fordern nur eine Revolution”, heißt die Devise der “Europhoriker”. Das Dumme ist: sie bejubeln eine Konterrevolution.

Eins vorweg: ich bin ein überzeugter Europäer. Ich bin 2004 nach Brüssel gegangen, weil ich einer kleinen europäischen Revolution – der Entstehung einer Verfassung und der Entwicklung einer eigenständigen EU-Außenpolitik – beiwohnen wollte. Leider musste ich dann mit ansehen, wie beides kläglich scheiterte. Schon damals wollten uns Leute wie Cohn-Bendit weismachen, dass Europa trotzdem vorankomme und es sich nur um eine kleine Krise handele, die dialektisch in ihr Gegenteil – einen großen Sprung nach vorn – verwandelt werden könne.

Einen ähnlichen Zweckoptimismus erleben wir auch jetzt wieder. Ausgerechnet die überzeugtesten und überzeugendsten Europäer behaupten allen Ernstes, dass die Euro- und EU-Krise eine enorme Chance bedeute. “Kleine Revolutionen” seien da im Gange, weil es plötzlich Dinge wie einen permanenten Euro-Rettungsfonds, eine Finanztransaktionssteuer oder ein Anleiheprogramm der EZB gebe. Cohn-Bendit und Beck gehen sogar so weit, Kanzlerin Merkel und EZB-Chef Draghi zu “Teilzeit-Revolutionären” zu erklären, weil sie diese neuen Instrumente geschaffen haben.

Was für ein Irrtum! Natürlich ist es richtig, dass Merkel & Co. noch vor zwei Jahren all das abgelehnt haben, was sie heute widerwillig aufbauen. Richtig ist auch, dass die neuen Instrumente zumindest theoretisch die Möglichkeit bieten, sie auszubauen. Aus dem ESM könnte ein Europäischer Währungsfonds werden, aus der Finanzsteuer eine eigenständige Einnahmequelle für die EU, aus dem Anleiheprogramm eine Transferunion. Theoretisch ließe sich all dies mit Eurobonds und einer demokratisch gewählten EU-Regierung zu einem neuen Ganzen ausbauen, das unsere Europhoriker “Vereinigte Staaten von Europa” nennen.

Doch wie sieht die Praxis aus? Die neuen Instrumente sind so programmiert, dass sie die EU spalten, die Demokratie aushöhlen und die Wirtschaft in den Krisenländern abwürgen. Der ESM wird dazu missbraucht, halb Europa ein neoliberales Crashprogramm überzustülpen. Das Anleiheprogramm darf nur nutzen, wer sich mit Haut und Haaren den Dogmen von Privatisierung und Liberalisierung verschreibt. Und die Finanzsteuer kommt erstmal nur den Nationalstaaten zugute. Merkel & Co. sträuben sich nicht nur dagegen, der EU eigene Steuern zuzugestehen, sie wollen Brüssel auch auf Dauer kurzhalten (siehe “Weniger Geld für mehr Europa”).

Intellektuell unredlich wird es, wenn unsere Protagonisten einerseits völlig richtig beschreiben, wie Deutschland die Krise für “hegemoniale Übergriffe” nutzt – und kurz darauf behaupten, Merkel und fast alle anderen deutschen Politiker seien “Europhoriker”, die mit revolutionären Taten um die Mehrheit in Deutschland rangeln. Wie passt das zusammen? Ist es nicht Merkel, die jeden großen “Sprung nach vorne” verhindert – ob er nun Eurobonds, Bankenunion oder EU-Steuer hieße? Ist es nicht diese Bundesregierung, die unter dem wohlfeilen Slogan “mehr Europa” versucht, mehr Deutschland durchzusetzen?

Das ist keine Revolution, sondern eine Konterrevolution, lieber Dany l’Allemand!

Das ist das Drama des überzeugten Europäers: einerseits will er in der Krise eine Chance sehen, endlich ein neues, demokratisches und solidarisches Europa zu schaffen. Andererseits muss er hilflos mitansehen, wie die EU unter deutscher Regie immer mehr zu einem autoritären und neoliberalen Projekt verkommt (siehe “Zwangsjacke Euro”). Das ist keine Revolution, sondern eine Konterevolution, lieber Dany l’Allemand!

Ich fürchte, dass wir dieses Drama erst dann überwinden werden, wenn wir uns von dieser EU und dieser Bundesregierung verabschieden und ein neues Europa jenseits der neoliberalen Eliten denken…

 

P.S. Wo bleibt das Positive, wird sich vielleicht der eine oder andere Leser fragen. Vielleicht setzen sich die Europhoriker ja doch durch, oder Merkels Schocktherapie wirkt? Für diese und andere erfreuliche Überraschungen habe ich eine neue Seite eingerichtet. Unter “Alles wird gut” bringe ich ab sofort gute Nachrichten und positive Einschätzungen – mal mit, mal ohne Augenzwinkern. Den Anfang macht dieser Beitrag, denn vielleicht hat Cohn-Bendit ja doch recht?