Das Blaue vom Himmel 

Nach jeder neuen Wahl in den Unionsstaaten werden altbekannte Reformziele verkündet. Doch demonstrative Eintracht kann nicht über nahezu unlösbare Organisationsprobleme der EU hinwegtäuschen. 


Von Marcel Schütz*

Die Wahl des französischen Präsidenten hat einen neuen Schub an Reformideen ausgelöst. Die Politologin Ulrike Guérot hat die Europa-Republik vor Augen, der österreichische Bundeskanzler Christian Kern ist für einheitliche Steuergesetze.

Martin Schulz will den gemeinsamen Haushalt. Auch Gerhard Schröder meldet sich zu Wort: Deutschland und Frankreich böte sich ein „historisches Zeitfenster“ für die gemeinsame Reform der EU.

Die Zahl der Plädoyers zur „besseren“ EU ist längst Legion. Es gehört in diesen Tagen zum guten Ton der politischen Prominenz wieder und wieder dieselben Worte mitzuteilen: Man „fordert“ die „grundlegende Reform“.

Alle sprechen von der richtig reformierten EU, aber jeder versteht darunter anderes. Je weniger sich in der Union grundsätzlich ändert, desto mehr wird darüber gesprochen, was sich ändern müsste.

Eine komplizierte „Metaorganisation“

So leidenschaftlich viele gegenwärtige Forderungen diskutiert werden mögen, so unbeachtet bleiben weitgehend unlösbare Strukturprobleme des Staatenbundes. In der Forschung spricht man von der EU auch als „Metaorganisation“.

Gemeint sind vielmals internationale Bündnisse, deren Mitglieder ebenfalls Organisationen oder Staaten, nicht jedoch Menschen sind: NATO, UNO und große Wirtschaftsverbände.

Der Kreis der Mitglieder, die eigennützig motiviert eintreten, bleibt überschaubar und wird exklusiv erkoren. Da es auf Konsens ankommt, fällt Hierarchie aus.

Die Zwecke bleiben allgemein formuliert, sodass es sich eigentlich um auslegungsbedürftige Werte handelt, was ihre Umsetzung nicht eben erleichtert. Mit der Zeit bilden sich in Metaorganisationen internen Allianzen und Koalitionen – quasi als Ersatzhierarchien.

Sanktionen sind ein stumpfes Schwert

Da Mitglieder fast nie ausgeschlossen werden können, fühlen sich alle geschützt. Sanktionen kommen langsam in Gang und bleiben meist ein stumpfes Schwert.

Der EU wird vorgeworfen, sie sei zu bürokratisch und überreguliere ihre Staaten. Auch bestehe ein Demokratiedefizit. Zwischen den Nationen und Brüssel bleibe die Legitimation auf der Strecke.

Was übersehen wird: Detailregulierung ist die Ersatzleistung dafür, dass man in der EU nur selten große Beschlüsse erzielen kann. Dem oft zitierten Defizit an demokratischer Beteiligung der Bürger steht eine starke Demokratie im Beschlussverfahren der EU gegenüber. Jedes einzelne Land kann bei grundlegenden Entscheidungen seine Zustimmung verweigern.

Das Problem ist, dass demokratische Willensbildung von Bürgern nur in vollwertigen Staaten erwartet, nicht aber an deren angebundene politische Organisationen, also die Union, gerichtet werden kann.

Starke Wirtschaft, volle Freizügigkeit

Sucht man nach basalen Gemeinsamkeiten, dann sind eine starke Wirtschaft und volle Freizügigkeit in jenem Teil der Welt zwischen den Handelsräumen Amerikas und Asiens wohl die wichtigsten Werte, die für alle EU-Mitglieder maßgeblich zählen.

Und darüber hinaus? In den derzeitigen Hoffnungsbotschaften findet sich viel Gewissheit über eine bessere Zukunft der EU.

Die Schwierigkeit, dass beide Extremformen – die Vereinigten Staaten Europas einerseits, rein ,nationalistische‘ Nationalstaaten andererseits – nicht in Mixtur zusammengehen und weitere Legitimationsprobleme erzeugen, ist nicht leicht zu überwinden.

 

Die Guérotsche Republik ist mit knackigen Optimierungsthesen schnell gefordert. Wie man ein solches Gedankenexperiment politisch mehrheitsfähig macht, ist allerdings erheblich voraussetzungsvoller.

Wozu ist die EU eigentlich da?

Jeder Strukturwandel der EU ist langwierig und wird nur über viele kleine Schritte wahrscheinlich. Hochgreifende Reformvisionen mögen nachvollziehbar sein, um (wahl-)politische Stimmungen zu bedienen; sie bleiben gleichwohl rhetorischer Art.

So oder so fehlt ausgerechnet in der Konsensorganisation EU ein Konsens über die wichtigste Strukturfrage: Wozu ist sie da und – problematischer noch – wohin soll es mit ihr gehen?

*Marcel Schütz forscht an der Universität Oldenburg über Reformprojekte in Organisationen und unterrichtet Soziologie an der Universität Bielefeld. Gemeinsam mit Finn-Rasmus Bull hat er gerade das Buch Unverstandene Union – Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU veröffentlicht.