Bizarre Totalitarismus-Debatte
Links gleich Rechts, diese ebenso simple wie falsche Gleichung ist wieder in Mode gekommen. Vor allem die Populismus-Debatte hat sie gestärkt. Doch nun gibt es auch noch eine Totalitarismus-Debatte – dem EU-Vorsitz sei „dank“.
Estland, das derzeit die EU-Geschäfte leitet, hat nämlich nach Tallin geladen – zu einer „Internationalen Konferenz zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“.
Klingt harmlos, führt aber zu Streit: Griechenlands Justizminister Kontonis will nicht teilnehmen und begründet dies mit einer vermuteten Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus. Zitat:
“Communism in whatever form cannot be put on the same level as the disgrace of Nazism, the concentration camps, the annihilation of 6 million Jews and millions more conscientious objectors and prisoners of war.”
Die eigentliche Gefahr sei die Wiederkehr von Rechtspopulisten und Nazis – sie seien es, die die Werte der EU gefährden. Ganz ähnlich sehen das die Linken im Europaparlament:
„At a time when the far-right and neo-Nazis are taking advantage of the failures of EU policies, equating Nazism with Communism is historically false, dangerous and unacceptable. Moreover, the fact that the Estonian government chose to focus on “Communist crimes” clearly shows an intent to use the institution of the rotating EU Presidency for ideological purposes.“
In der Tat kann man sich fragen, warum die EU ausgerechnet jetzt über „kommunistische Verbrechen“ diskutieren soll. Will Estland auf diese Weise die Reihen gegen Russland schließen?
Genauso fragwürdig ist es aber, das Ganze nun gleich zum Anschlag auf die Nazi-Opfer aufzublasen. Statt über die Vergangenheit sollte die EU lieber über die Zukunft diskutieren…
P.S. Jetzt hat auch die EU-Kommission ihren Senf dazu gegeben. Sie ist gegen jede Form des Totalitarismus, speziell aber auch gegen den wieder auflebenden Nationalismus…
Peter Nemschak
23. August 2017 @ 15:04
@ebo Ich wehre mich bloß gegen eine einseitige Geschichtsdeutung,, insbesondere dagegen, dem Westen unterschwellig eine ausschließliche Täterrolle zuzuweisen und daraus, zumindest moralisch, Schadenersatz abzuleiten.
paul7rear
23. August 2017 @ 16:45
Beim lesen Ihres Kommentars stelle ich mir gerade einen kleinen Jungen vor, der zornig mit den Füßen stampft und schreit: „Jetzt will ich aber Recht haben.“ 🙂
Vielen Dank!
Claus
23. August 2017 @ 10:50
Der heutige Blog über das, was da derzeit in Brüssel läuft, lässt mich etwas ratlos zurück. Deshalb hier etwas sehr Erhellendes zum Thema Links / Rechts von Ralf Stegner, SPD, im Zusammenhang mit den Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg:
„Kriminelle Idioten jenseits linker Ideen: Ich bin ein streitbarer linker Politiker, ein progressiver Sozialdemokrat. Links-Sein bedeutet, für Emanzipation, Freiheit, Gerechtigkeit – gegen Gewalt, Krieg, Hunger, Armut und Unterdrückung zu streiten. Menschen anzugreifen, Kleinwagen anzuzünden und Panik zu verbreiten – das ist nicht links, auch wenn manche sich darauf berufen mögen.“
Verstehe, Sachen wie G20 in Hamburg sind dann vom Ursprung her vermutlich eher Rechts, und persönliche politische Koordinatensysteme scheinen drehbar zu sein wie die Kompassrose auf dem Alkohol. Interessant wäre dann noch, wo Gregor Gysi z.B. das DDR-Regime einordnen würde. Nach Stegner-Definition auch nicht so richtig Links?
Satire AUS.
ebo
23. August 2017 @ 11:06
@Claus Wir sollten den Streit um den EU-Vorsitz vom deutschen Wahlkampfgetöse trennen. Die Esten haben eine klar antirussische und antikommunistische Agenda, was aus ihrer Geschichte auch verständlich ist. Allerdings macht es keinen Sinn, nun wieder alte Wunden aufzureißen und eine Totalitarismus-Debatte zu führen, die die EU weiter spaltet…
paul7rear
23. August 2017 @ 16:15
@Claus
Sagen Ihnen die Namen Brigitte Kuhlmann und Wlfried Böse etwas? Nun, dass waren Links-Terroristen der Revolutionären Zellen, die neben RAF und der Bewegung 2. Juni, letztlich geistiges Gedankengut der gescheiterten 68er waren. Beteiligt waren die obengenannten bei der Entführung von Air-France-Flug 139 nach Entebbe. Genauer, sie selektierten die jüdischen Passagiere nach eigenen Kriterien aus. Auf die Frage eines Holocaust Überlebenden, der anhand seiner Auschwitz-Zwangstätowierung selektiert wurde, ob dieses nicht faschistische Methoden seien, gab Böse zur Antwort: Er sei kein Nazi, sondern Idealist.
Bei dem Einsatz des israelischen Spezialkommandos starb Jonathan Netanjahu, der Bruder von Benjamin Netanjahu, nur als Info. Als Tipp, schauen Sie einmal bei, https://linksunten.indymedia.org/de , vorbei. Die kruden Thesen, die diese Leute verbreiten, sind erschreckend. .
Reinard Schmitz
23. August 2017 @ 09:20
@Peter Nemschak: Da gebe ich Ihnen i.W. mal recht 😉 Aber ein gewichtiger Umstand bleibt doch wahr: Die sowjetische Armee war essenzielle Kraft im Sieg gegen die Verursacher der braunen Toten… und wenn wir als deutsche Versager in Zeiten zweier Weltkriege irgendjemandem zu Dank verpflichtet sind, dann sicher auch den roten toten Soldaten aus dem Osten Europas.
Peter Nemschak
23. August 2017 @ 12:54
Sie vergessen die toten Amerikaner und die massive Wirtschaftshilfe durch die USA an die Sowjetunion während des Krieges. Ohne sie wäre die Sowjetunion untergegangen und der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg (Marshall Plan) nicht möglich gewesen. Der Sowjetkommunismus hat ebenso wie der Nationalsozialismus Millionen von Toten verursacht und das bevor Nazideutschland in der Sowjetunion eingefallen ist; eine Ideologie so schlecht wie die andere.
ebo
23. August 2017 @ 13:11
Sie vergessen die Opfer des „freien Westens“ in Vietnam, Irak, Afghanistan… Und Sie vergessen wohl auch, dass das Deutsche und das Osmanische Reich zusammen den ersten Völkermord begangen haben – lange vor den Nazis und den Kommunisten! – Ic bleibe dabei, das Aufrechnen bringt nichts, die Vergleiche hinken. Die EU sollte sich lieber um ihre eigenen, aktuellen Probleme kümmern; sie hat mehr als genug.
Peter Nemschak
22. August 2017 @ 15:30
Es ist tatsächlich bizarr, die Millionen roten gegen die Millionen braunen Toten aufzurechnen. Estland muss mit seiner Geschichte selber klar kommen; kein EU-Thema. Dass Nationalsozialismus und Kommunismus zwei gleich mörderische Irrwege im 20.Jhdt. waren, sollte hinlänglich bekannt sein. Die rechten und linken politischen Ränder scheinen dies bis heute nicht begriffen zu haben.