Auf Sand gebaut

Die Brüsseler Sparvorgaben für “Defizitsünder” sind wissenschaftlich nicht zu begründen. Und sie werden auch nicht mehr eingehalten: Ausgerechnet Eurogruppenchef Dijsselbloem setzt sich über die “heiligen” EU-Ziele hinweg – und lässt das Defizit in den Niederlanden schleifen.

Dass die Austeritätspolitik in der Eurozone auf Sand gebaut ist, konnte man schon lange wissen. Bereits seit Monaten tobt unter Experten die Debatte über die fiskalischen Multiplikatoren.

Offenbar schlägt der Sparkurs stärker auf das Wachstum (und die Steuereinnahmen) durch, als man in Brüssel und Berlin wahr haben möchte. Beim IWF in Washington ist man daher bereits vom Sparkurs à la Bruxelles abgerückt.

Nun kommt auch noch eine Diskussion über die Schädlichkeit von Staatschulden hinzu. Die beiden Harvard-Profs Reinhart und Rogoff hatten postuliert, eine Schuldenquote von über 90 Prozent des BIP schade dem Wachstum.

Diesmal geht es an die Substanz

Doch nun werden Zweifel an dieser Schwelle laut, die auch EU-Währungskommissar Rehn immer wieder anführt, um seine Sparvorgaben zu begründen. Rogoff und Reinhart hätten sich verrechnet, selbst hohe Schuldenstände seien nicht schädlich.

Rehn reagierte wie üblich auf die Kritik: er wies sie barsch zurück. Die EU stütze sich nicht nur auf eine Studie, die Kritik sei nicht neu, und überhaupt gebe es keine Alternative. Ähnlich hatte er bereits die Multiplikatoren-Debatte abgebürstet.

Doch diesmal geht es an die Substanz. Denn Rehn wird nicht nur von außen, aus dem fernen Harvard, attackiert. Seine Spardoktrin wird auch von innen, vom Chef der Eurogruppe, aufgeweicht.

J. Dijsselbloem hat seinem Land, den Niederlanden, nämlich eine Sparpause verschrieben. Statt das Budgetdefizit von derzeit 4,4 Prozent wie versprochen unter die EU-Grenze von 3 Prozent zu drücken, lässt er es schleifen.

Eine für 2014 geplante Budgetkürzung um 4 Mrd. Euro wurde kurzerhand auf Eis gelegt – in der Hoffnung, dass 2013 das Wachstum wieder anzieht. “Die Niederlande wenden sich von Deutschlands Sparpolitik ab”, titelte die “Welt”.

Damit hat Dijsselbloem, der die Defizitziele früher “heilig” nannte, einen Präzedenzfall geschaffen. Fortan kann de Chef der Eurogruppe nicht mehr begründen, warum andere Spardiktate schlucken sollen, die er selbst nicht einhält.

“Growth first”

“Growth first” heißt die neue Parole in Den Haag. Sie dürfte schnell Anhänger in Paris, Madrid und Lissabon finden. Schließlich hat sich die EU-Doktrin, durch Sparen zu Wachstum zu kommen, nirgendwo bewährt.

Sie hat den Praxistest nicht bestanden, in keinem einzigen Land der Eurozone. Und nun wird sie auch noch von der Wissenschaft nach allen Regeln der Kunst zerlegt.

Das ist nicht nur für Rehn ein Problem, es müsste auch Finanzminister Schäuble ärgern. Schließlich ist er Rehns Einflüsterer; von ihm stammt auch der Unsinn von der “wachstumsfreundlichen Konsolidierung”.

Doch Schäuble tut so, als gehe ihn das alles nicht an. Im Bundestags-Wahlkampf sind keine Misstöne erwünscht. Erst nach der Wahl wird man wohl auch in Berlin realisieren, dass die Sparpolitik auf Sand gebaut ist…

P.S. Wer sich für die wissenschaftliche Debatte interessiert, findet hier einen guten Überblick.