Links-liberale Denkfehler
Die Flüchtlingskrise treibt rechten Populisten in ganz Europa neue Wähler zu. Auch Deutschland folgt dem Trend: Die AfD hebt ab, SPD und Linke verlieren. Kein Wunder, meint der Philosoph S. Zizek.
[dropcap]D[/dropcap]ie deutsche und europäische Linke (im weitesten Sinne, SPD incl.) hänge liberalen Illusionen nach, schreibt Zizek in seinem Buch “Der neue Klassenkampf”. Hier die drei wichtigsten Denkfehler:
- Die Menschen fliehen vor blutrünstigen Diktatoren, Krieg und Terror. Das ist für Zizek aber nur ein Aspekt. Im Kern sind Flucht und Terror die Folgen eines neuen Klassenkampfes, “Flüchtlinge sind der Preis der globalen Wirtschaft”.
- Europa habe wegen seiner Geschichte eine besondere Verantwortung und müsse so viele Flüchtlinge wie möglich aufnehmen. Falsch, so Zizek. Die Kapazitäten sind begrenzt, die liberale Politik ist Wasser auf die Mühlen der Rechten.
- Für die Flüchtlingskrise gebe es eine “europäische Lösung” im Rahmen der EU. Nein, sagt der Philosoph: “Die derzeitige EU-Politik ist nurmehr ein verzweifelter Versuch, Europa für den neuen, globalen Kapitalismus fit zu machen.”
Die Flüchtlingskrise sei eine Chance, “die Grundfesten neu zu überdenken” und Europa neu zu definieren, schreibt Zizek. Die EU ist für ihn nicht der geeignete Rahmen, im Gegenteil: er möchte sie überwinden.
Diese Analyse muss man ebensowenig teilen wie die Klassenkampf-Rhetorik. Klar ist jedoch, dass die Linke scheitern wird, wenn sie keine eigene Antwort auf die Krise findet und liberalen Illusionen nachhängt.
Die Verlierer schützen
Neben der von Zizek angemahnten Kritik des globalen Kapitalismus müsste es auch darum gehen, Mehrheiten für eine Politik zu organisieren, die die Globalisierungs-Verlierer schützt und die Ursachen der Krise beseitigt.
Doch genau davor drücken sich Politiker wie SPD-Chef Gabriel oder EU-Kommissionsvize Timmermans, die derzeit mächtigsten Vertreter der europäischen Sozialdemokratie.
Während sie von einer “europäischen Lösung” der Flüchtlingskrise reden, bereiten sie die nächste Welle der Entsolidarisierung vor – Arm in Arm mit dem Briten Cameron und Kanzlerin Merkel…
Siehe zu diesem Thema auch “Wen schützt Europa” und “Warum die Rechten gewinnen”
Foto © European Union , 2014 / Source: EC – Audiovisual Service / Photo: Etienne Ansotte
Peter Nemschak
5. Februar 2016 @ 16:24
Die Linke will die von Machiavelli vor 500 Jahren beschriebenen anthropologischen Konstanten nicht anerkennen. Im Grunde hat sich die menschliche Gesellschaft in ihren Verhaltensweisen seit damals nicht wesentlich verändert.
GS
1. Februar 2016 @ 20:08
Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass kaum jemand so an der EU hängt wie die Mitte-Links-Parteien. Und darüber vernachlässigen sie ihr, nunja, früheres Wählerklientel, wofür sie dann krachende Wahlniederlagen einfahren. Nicht nur interessieren sich diese Linken nicht für die Globalisierungsverlierer in allen Ländern, sondern auch nicht für die Europäisierungsverlierer. Womöglich sorgt Europäisierung sogar für mehr Stress in breiten Wählerschichten als Globalisierung, denn der Abbau von Handelshemmnissen zur Vollendung der Binnenmarkt setzt ganze Branchen unter Druck, aber auch oder gerade die staatliche Daseinsvorsorge, die in Ländern wie Deutschland nun wirklich nur noch auf ihren Kern reduziert ist, nämlich den Sozialstaat, während Wasserwerke etc. an Finanzinvestoren verkauft und zurückgeleast sind. Und der Sozialstaat selbst gerät durch die liberale Auslegung der Binnenmarktgesetzgebung durch Kommission und EuGH auch unter Druck. Scheint bei den Sozis aber niemanden zu jucken.
Und so steuern Parteien wie die SPD auf die 20 % Marke zu, während sich die Linke, aber auch Parteien wie die AfD von ihrem früheren Fleische nähren, insb. da nun in völliger Instinktlosigkeit das linke Wählerklientel mit den Wirtschaftswunderflüchtlingen noch weiter unter Druck gesetzt wird. Aber die SPD hat’s ja noch gut. Mal in letzter Zeit in die Niederlande geguckt, wo die PvdA in den Umfragen steht?
Peter Nemschak
1. Februar 2016 @ 12:13
@Der Dicke Wer die 1% der Reichsten kritisiert, vergisst, dass 30% der Weltbevölkerung zusammen genommen weniger Vermögen als der Durchschnittsösterreicher haben. Nicht, dass der Durchschnittsösterreicher so reich wäre, aber die große Masse der Weltbevölkerung nichts besitzt.
DerDicke
1. Februar 2016 @ 13:52
Da war keine Kritik, sondern eine Feststellung.
So wenig ich die Sonne kritisieren kann wenn sie mit der Wasserstofffusion durch ist und dann unter der eigenen Masse kollabiert. Nur im Gegensatz zur Sonne haben wir eine Wahl. Ich betrachte nur die Kausalkette – was war – was ist – was kommt. Wenn man diese Kette bis zum Ende durchzieht besitzt am Ende ein Mensch alles. Vorher kommen aber die Mistgabeln und Laternenpfähle, wie immer in der Geschichte.
Andreas
1. Februar 2016 @ 10:00
It is the economy (Geldsystem), stupid… Klassenkampf ist Blödsinn, es ist ein Kampf der Ideen, das war der Kern der Liberalität bei Popper. Das Problem mit dem Verfall Europas wird der lösen, der die EU vom Kopf auf die Füße stellt, also das Primat der “Märkte” bei der Staatsfinanzierung löst, indem die Zentralbanken ihre sog. Unabhängigkeit verlieren. Das ist kein Problem von links oder rechts (das ist nur die Raumaufteilung, wie die Leute sitzen, um miteinander zu reden), sondern eine existenzielle Frage auch für “Konservative” und vor allem für die Truthähne dieser Welt. Die Leute gehen nach rechts, weil diese erklären, was sie nicht sehen können, also die Gespenster, die umher gehen, während SPD/ CDU/ GRÜNE u.a. so tun, als seien diese nicht da. Das Unheimliche ist, was verdrängt wird und wieder in Bewusstsein rückt (Freud). Die Dummköpfe in Berlin haben epistemische und psychologische Probleme, und sie sollten umdenken, bevor die atomare Strategie der NATO genug militärischen Dummköpfen die Idee eingibt, nun könne man Russland besiegen. Noch eine Anmerkung dazu: wie dumm muss man sein, ein Land ökonomisch anzugreifen, dass im Gegensatz zu allen EU-Ländern über eine unabhängige Währung verfügt, d.h. eine abhängige Zentralbank?
Peter Nemschak
1. Februar 2016 @ 11:29
Wer will eine solche Währung besitzen, deren Geldwert in den Sternen steht? Wir stehen an der Schwelle zur 4. Industriellen Revolution, in der die Karten neu gemischt werden. Die Unsicherheit vieler rührt daher, dass sie noch nicht wissen, ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern gehören werden. Bei einem Epochenwandel wie er jetzt statt findet, ist der soziale Wandel mit all seinen Verwerfungen besonders stark zu spüren. Auf die Frage, was in 40 Jahren sein wird, hat Mitte der 80-iger Jahre der bekannte Sozialpsychologe Peter R. Hofstätter, ohne es wissen zu können, geantwortet: Hexenjagd. Hinsichtlich der verstärkt hochgekommenen Weltuntergangsängste und der Reaktion vieler Menschen lag er gar nicht so falsch.
DerDicke
1. Februar 2016 @ 11:46
Im Moment sieht es so aus, dass fast alle verlieren die nicht zu den oberen 1% der Weltbevölkerung zählen. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen wie der Volksmund so treffend bemerkt.
Dagegen spricht, dass das Finanzsystem zunehmend zu kollabieren droht. Auch das erscheint logisch, wenn man die Vermögenskonzentration so weiterbetreibt wie bisher muss das auch passieren – oder wie soll eine Wirtschaft funktionieren, in der 1% alles Vermögen und 99% gar nichts besitzt?
http://www.rottmeyer.de/wann-kommen-endlich-wieder-gute-nachrichten/
Abwarten und Tee trinken.
Peter Nemschak
31. Januar 2016 @ 18:08
Wer immer das Arbeitslosenproblem nachhaltig lösen kann, wird letztlich gewinnen. Konkrete Lösungsvorschläge sind von der extremen Rechten bisher nicht gekommen. Trotzdem erfreut sie sich wachsenden Zulaufs, was nicht für die Intelligenz der Menschen spricht. Die Sehnsucht nach “Heimat” , die von den Rechten bedient wird, scheint bei vielen Menschen größer als die nach “Freiheit” zu sein. Es ist ein Fehler, die emanzipatorische Wirkung der Aufklärung zu überschätzen. Sie war immer ein Minderheitenprogramm.
DerDicke
1. Februar 2016 @ 07:53
Arbeitslosigkeit ist ein Aspekt von vielen. Die kann ich beseitigen, indem ich 1 Euro Jobber Gräben auf- und zuschütten lasse. Menschenwürdige Arbeit, Verteilung auf mehr Schultern (also das Gegenteil der Arbeitsverdichtung), genug Lohn um davon auch die Familie ernähren zu können, darauf kommt es an. Arbeiten um zu Leben, nicht Leben um zu Arbeiten, denn dafür ist unsere wenige Zeit viel zu wertvoll.
Aber leider hat mittlerweile die Polarisation bei den Flüchtlingen alles überstrahlt. Da geht es mittlerweile auch darum, als Frau leicht bekleidet ausgehen zu können, sich auf Veranstaltungen und in Discos zu wagen – bzw. als westliche Gesellschaft allgemein die eigenen Werte zu verteidigen – Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung um nur die drei zu nennen, die im Moment am ehesten im Feuer stehen.
Claus
1. Februar 2016 @ 11:05
Sehr geehrter Herr Nemschak, ich versteh Sie mal wieder nicht, auch erschließt sich mir nicht, in welcher Beziehung „Heimat“ zu „Freiheit“ steht. Kann man in der Heimat nicht frei sein? Und in welchem Bezug steht das Arbeitslosenproblem zur Freiheit? Vielleicht die Freiheit, drei prekäre Arbeitsverhältnisse zu haben statt einem, mit dem eine Familie halbwegs zurechtkommt?
Warum die Linke verliert? Die Krise der illegalen Einwanderung betrifft in erster Linie bisherige Wähler des linken Parteienspektrums: Weiterer Druck auf das Niedriglohnsegment, unerschwinglicher Wohnraum, Erosion der Sozialleistungen, Bildungszerfall auf niedrigstem denkbarem Niveau, Altersarmut. Auch EU, Euro, Globalisierung, TTIP & Co. werden zunehmend als ideologischer Zündstoff erkannt. FÜR die Intelligenz spricht – entgegen Ihrer Annahme – dass Menschen dies inzwischen zu merken scheinen und ihre politische Orientierung den aktuellen Gegebenheiten anpassen.
Offenbar haben ihre bisherigen sozialistischen Parteiführer in Brüssel und Berlin diese Zusammenhänge noch nicht erkannt.
Peter Nemschak
1. Februar 2016 @ 11:33
Mit Heimat verbinden offenbar viele: Volksgemeinschaft, mit Freiheit Weltbürgertum. Wenn Menschen bezahlte Arbeit haben, haben sie mehr Wahlmöglichkeiten. Freiheit heißt u.a. Wahlmöglichkeiten haben, was die persönlichen Lebensentwürfe betrifft.
DerDicke
1. Februar 2016 @ 12:11
Also Peter, echt jetzt?
Ffür mich ist Heimat erst mal der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Der Ort an dem ich lebe kann ggf. zur zweiten Heimat werden. Was das mit einer Volksgemeinschaft zu tun hat? Absolut nichts, mit Hamburg habe ich als Franke überhaupt nichts am Hut, obwohl dort Deutsche wohnen, sollte ich nach Russland emigrieren kann das durchaus eine Heimat werden – egal ob dort Russen wohnen oder nicht. Dort angekommen könnte man Deutschland als ganzes als Heimat bezeichnen – was aber wiederum nicht mit den Deutschen als Volksgemeinschaft zu tun hat (die leben auch in der Schweiz und in Österreich).
Und was ist bitte ein “Weltbürgertum” und was hat das mit Freiheit zu tun? Auch in Nordkorea hat man die Freiheit, seinem persönlichen Lebensentwurf nachzugehen – heiraten oder nicht, Kinder oder nicht etc.
Zur Freiheit gehört eine ganze Menge mehr. z.B. das Recht sich selbst zu schädigen, das Recht sein Eigentum notfalls mit Gewalt zu verteidigen, das Recht auf freie Meinungsäußerung (im Sinne des Freedom of Speech, nicht so weichgespült und relativiert wie bei uns hier), die Religionsfreiheit, die Vertragsfreiheit,… also auch vieles von dem, was in Europa in den letzten Jahren deutlich reduziert wurde.
Baer
1. Februar 2016 @ 13:32
Hallo Herr Nemschak, das einzige was an Ihren Ausführungen richtig erscheint, dass die Intelligenz der Menschen(Politiker eingeschlossen) nicht sonderlich hoch ist , denn sonst hätten wir nicht die etablierten Parteien die wir haben .Da Parteien die Demokratie ausschließen ( schon gemäß Ihrer Programmatik) , ist die einzige Lösung unserer Probleme, die Parteien abzuschaffen . Wird lange dauern, aber versuchen muß man es.
Parteien nur des Machterhalts wegen zu unterstützen halte ich für wenig intelligent und zielführend. Klientelpolitik kann niemals demokratisch sein, egal ob von rechts, links oder der sogenannten Mitte.
Johannes
1. Februar 2016 @ 15:16
Ja aber was bleibt den Bürgern denn übrig?
Der Europäische Frieden exestiert, weil wir alle in Europa uns auf gemeinsame Gesetze und Werte verständigt haben.
Wenn man immer wieder sich über geltenes Recht hinwegsetzt, kann man sich doch nicht wundern, wenn Bürger anfangen, sich nach anderen Parteien umzusehen (und sei es nur aus Protest).
Die Flüchtlinge kommen auch nach Deutschland, weil hier Gesetze das friedliche Zusammenleben erst möglich machen!
Wenn ich dann verlange, das Gesetze für alle gelten, wird man dafür auch noch heftig kritisiert.
Wo soll das denn alles hinführen? Warum sollen für mich als kleiner Bürger Gesetzen gelten, aber für die Politik nicht, genau DAS kannten wir bisher nur aus Diktaturen und Unrechtsstaaten. Und jetzt auch in Deutschland, das kann doch nicht auf Dauer gut gehen.
In diesen unsicheren Zeiten konnte man sich als Bürger bisher wenigstens darauf verlassen, das Gesetze eine gewisse Sicherheit geben, und jetzt nimmt man uns die letzte Sicherheit.
Pjotr56
31. Januar 2016 @ 17:53
Warum nicht mal wieder Klassenkampf, aber so richtig?
Peter Nemschak
1. Februar 2016 @ 20:30
Wie soll das funktionieren, nachdem die Mehrheit der Menschen die Werte des Kapitalismus sehr zum Leidwesen der Linken internalisiert hat? Das Menschenbild der Rechten scheint realitätsnäher als das der Linken zu sein.