Systematisch überfordert

Das Projekt Europa gibt Grund zu tiefer Sorge. Es ist offenkundig, dass die europäischen Regierungen derzeit nicht Willens sind, gemeinsame Politik zur Lösung für die soziale Spaltung in Europa, die Instabilität der Euros, den drohenden Klimakollaps, die Flüchtlingskrise und den Terrorismus zu liefern. Die europäischen Institutionen wirken systematisch überfordert.


Von Sven Giegold, MdEP (Grüne)

[dropcap]D[/dropcap]as ermöglicht Populisten, das europäische Gemeinschaftswerk schlechter zu reden als es ist und vor allem der Scheinlösung nationaler Souveränität das Wort zu reden. Nationalismus neuer Form droht. Doch es wird nicht genügen, den Gegnern der Europäischen Einigung ein trotziges „Jetzt erst recht“ entgegen zu schleudern. Es wird auch nicht ausreichen, darauf zu verweisen, dass die Nationalstaaten die Lösungen für die großen politischen Probleme nicht mehr liefern können.

Rechtsextreme, rechtspopulistische und europaskeptische Parteien erleben einen erschreckenden Aufstieg in Frankreich, Österreich, Finnland, Großbritannien, Schweden, den Niederlanden und Polen. Gleichzeitig sehen wir eine Renaissance „linker“ Parteien mit national-souveränistischen Argumentationsmustern wie Podemos in Spanien, die 5 Sterne in Italien, den Sozialisten in den Niederlanden oder auch Syriza in Griechenland. Sie versprechen, was illusorisch ist: Soziale Sicherheit, Demokratie und Kontrolle wirtschaftlicher Macht durch eine Schwächung der EU und eine Hinwendung zum Nationalstaat. Dabei machen sie ein Angebot von Identität, das wir Proeuropäer derzeit nicht ausstrahlen.

Viele Regierungen der christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien, die die europäische Einigung befürworten, verlässt in dieser Situation großer Herausforderungen und bei wachsenden populistischen Parteien der europapolitische Mut. Sie üben sich in europapolitischem Zaudern und technokratischem Durchwursteln, statt mit gemeinsamer europäischer Politik die Herausforderungen anzugehen und so auch die europäische Einigung in den Augen der Bürger*innen zu rehabilitieren. Durch die Schwäche gemeinsamen Handelns können sie auch nicht ausstrahlen, was gegen nationalistische Identitätsangebote am wirksamsten wäre: Ein glaubwürdiges Eintreten für eine europäische Identität, die eben nicht auf angeblicher nationaler Einheitlichkeit, sondern auf Vielfalt, bürgerlichen und sozialen Rechten für alle, Demokratie, Eintreten für Menschenrechte und Frieden beruht. Europa hat auf diesem Weg sehr viel erreicht und ist es wert, verteidigt und weiterentwickelt zu werden. Um der europäischen Desillusionierung entgegen zu treten, brauchen wir jedoch nicht nur eine offensiv vertretene Identität des Europäischen Projekts, sondern erfolgreiches gemeinsames Handeln.

Kurzfristige Kosten

Reine win-win-Lösungen sind dabei in Europa selten. Um Probleme europaweit zu lösen, müssen oftmals nationale Regierungen bereit sein, kurzfristige Kosten in Kauf zu nehmen. Die Länder der Eurozone könnten von einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik durch wirtschaftliche Stabilität profitieren. Dazu müsste Deutschland aber einsehen, dass eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Eurozone auch eine Senkung des hohen Exportüberschusses bedeutet. Denn Exportüberschüsse des einen führen immer in die Überschuldung der anderen. Höhere Investitionen und Löhne in Deutschland wären dabei durchaus auch im Interesse der großen Mehrheit in unserem Land. Umgekehrt stiftet die französische Politik der Sozialisten kein Vertrauen in die Reformfähigkeit des wichtigsten Euro-Partnerlands. Europa braucht mehr Kompetenzen, um sicherzustellen, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik mit dem Zusammenhalt der Gemeinschaft kompatibel ist.

Viele Wähler der rechtspopulistischen Parteien kommen aus den Regionen, die von der wirtschaftlichen Globalisierung nicht profitieren konnten. In diesen Regionen müsste Europa in ökologische und soziale Zukunftsjobs investieren. Diese Investitionen können Griechenland, Portugal, usw. derzeit nicht selbst finanzieren. Europa sollte diese Gemeinschaftsprojekte als Investition in die gemeinsame Zukunft solidarisch finanzieren. Solche Transfers zum Wohle des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts sind dringend erforderlich. Europäisch finanzierte Zukunftsinvestitionen in den bisherigen Verliererregionen in Erneuerbare Energien, nachhaltigen Tourismus, Bildung und andere Zukunftsbranchen wären ein Gegengift gegen die Ideologen des Front National und anderer Nationalisten. Eine Investitionsoffensive ist auch notwendig, um die konsequente ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft und unseres Konsums zu erreichen.

Doch die große Koalition traut sich nicht, ihre große Mehrheit zu nutzen, um für eine mutige europäische Politik in Deutschland zu werben. Umgekehrt braucht es für einen menschlichen Weg aus der Flüchtlingskrise europäische Solidarität. Hier sind andere Länder am Zuge, einen angemessenen Teil der Flüchtlinge aufzunehmen, und Europa muss dafür sorgen, dass die Schutzsuchenden überall gut behandelt werden. Um die Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, braucht Europa endlich eine gemeinsame Außen- und Entwicklungspolitik. Solange die 28 EU-Länder mit ihren begrenzten Ressourcen parallel und allzu oft gegeneinander arbeiten, kann Europa nur weit unter seinen Möglichkeiten etwa mit friedlichen Mitteln bei Konflikten vermitteln oder bei der wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Länder helfen.

Europäische Hoffnung

Mutige gemeinsame Politik gerade als Reaktion auf tiefe Krisen sind in Europa nicht illusorisch. Immer wieder hat Europa sich so nach vorne gearbeitet. Ich sehe die Rolle von uns Grünen darin, auf zukunftsfähige europäische Politik zu drängen, statt sich kurzsichtig und kleinmütig vor den Problemen zu verkriechen. Wir müssen mit europäischer Hoffnung den Gegnern der europäischen Einigung und den Rechtspopulisten entgegentreten. Das ist auch unsere Aufgabe als entschieden europäische Partei in Deutschland. Denn wie die Zustimmung zur AfD zeigt: Auch Deutschland ist gegen europaskeptischen und fremdenfeindlichen Populismus wahrlich nicht immun.

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